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Einige Thesen zur Krisenpolitik

Ein exklusiver Gastbeitrag des späteren Begründers der Teamtheorie

16. Jahrgang, 1931, Heft 51

von Dr. J. Marschak (Heidelberg)

Vorbemerkung des Verfassers:
Der Verfasser ist bestrebt, nicht ein bestimmtes Projekt zu verteidigen, sondern mit zahlreichen Vorurteilen aufzuräumen, die dem fruchtbaren Durchdenken der Frage im Wege stehen.

1. Die internationale Kreditausweitung darf zur Erhöhung der Preise führen, wenn auch die Zuspitzung der Hausse zu vermeiden sein wird. Die Aussichten sind durch die jüngste französische Politik stark verschlechtert worden.

Jacob (bis 1933 Jakob) Marschak (1898–1977), wurde in Kiew geboren. Er engagierte sich als Sozialist und Pazifist und emigrierte 1919 nach Berlin. Dort und in Heidelberg studierte er Wirtschaftswissenschaften. Von 1922 bis 1926 war er als Wirtschaftsjournalist und anschließend als Referent für Wirtschaftspolitik des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes tätig. 1928 wechselte er an das Kieler Institut für Seeverkehr und Weltwirtschaft. Sein Versuch, sich 1930 zur Habilitation an der Universität Kiel einzuschreiben, scheiterte am Widerstand der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät. Er habilitierte daraufhin in Heidelberg. 1933 floh Marschak zunächst nach Wien. 1935 wurde er erster Direktor des neu gegründeten Oxford Institute of Statistics. 1939 ging Marschak in die USA und wurde Lehrstuhlnachfolger von Gerhard Colm an der New School for Social Research in New York. Im Januar 1943 folgte er dem Ruf an die Universität Chicago und wurde zugleich Direktor der „Cowles Commission for Research in Economics“. Die Cowles Commission verschaffte sich durch ihre Forschungsarbeiten zur Modellierung simultaner Gleichungssystem und zum wahrscheinlichkeitstheoretischen Ansatz in der Ökonometrie schnell internationale Anerkennung. 1955 wechselte an die Yale-Universität, wo er gemeinsam mit Roy Radner den Begriff der Teamtheorie prägte, die Unternehmen beziehungsweise Organisationen als eine Gruppe von Personen betrachtet, deren Handlungen sich an bestimmten Entscheidungsregeln beziehungsweise Verhaltensnormen orientieren. 1960 ging er an die University of California in Los Angeles, wo er 1965 emeritierte und bis 1969 Direktor des „Western Management Science Instituts” war.

https://de.wikipedia.org/wiki/Jacob_Marschak

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2. Eine deutsche Kreditausweitung darf nur ohne Preissteigerung erfolgen, um nicht die Zahlungsbilanz zu gefährden; relative Überhöhung des deutschen Preisniveaus führt entweder zu Goldabflüssen oder zur Markbaisse und jedenfalls zur Gefährdung des Baseler Abkommens, bzw. der Chancen seiner Prolongation.

3. Kreditausweitung ohne Preissteigerung ist nur möglich, wenn das zusätzlich erzeugte Produkt in vollem Betrag des gewährten Kredits nicht viel später auf dem Konsummarkt erscheint als das zusätzliche Geld, und das zusätzliche Geld höchstens einmal (nämlich bei der ersten Verausgabung der Löhne durch die neu eingestellten Arbeiter) ohne sein Warenäquivalent auf dem Konsummarkt erscheint.

4. Dieser Bedingung genügen rein nur: solche Kredite, die im Rahmen der vorhandenen Kapazität der Anlagen nach spätestens drei bis fünf Wochen das Konsumgut auf dem Mark erscheinen lassen, vorausgesetzt, daß das Einkommensgeld seine heutige Umlaufsgeschwindigkeit behält. Sie beträgt heute nämlich 10- bis 20mal je Jahr und ist bedingt:
a) durch die Dauer der Einkommenszahlungsperioden (Wochenlöhne, Monatsgehälter usw.);
b) durch den Rhythmus der Konsumausgaben (Monatsmiete, Saisoneinkäufe).
Eine absichtliche Verlängerung dieser Periode mit dem Ziel, die Zahl der unbedenklichen Kreditverwendungsmöglichkeiten zu vergrößern, dürfte technisch schwierig sein.

5. Es lassen sich bestimmte Branchen mit unausgenutzter Kapazität nennen, die der Konsumreife nahe sind: die Lebensmittel-Großindustrie, die Textil- und Bekleidungsindustrie, evtl. auch Teile der Landwirtschaft (die sogenannte Randsiedlung der Arbeitslosen beruht ja ebenfalls auf Gewährung landwirtschaftlicher Lohnkredite).

6. Eine preissteigernde Wirkung fällt ferner auch dort fort, wo und solange noch vom Lager abgesetzt werden kann, so daß die vermehrte Geldmenge von vornherein einem vermehrten realen Konsumgüterumsatz gegenübertritt.

7. Die Ausweitung der Betriebskredite für die Konsumgüterbranchen käme auch den Produktionsmittelindustrien zugute, jedoch nur in dem Maße, als Ersatzteile und Halbfabrikate für den laufenden Bedarf jener benötigt werden, Mehrbeschäftigung der Produktionsmittelindustrie für langfristige Neuinvestitionen sowie jede Neubau- und Meliorationstätigkeit darf nicht aus zusätzlichen Krediten finanziert werden, wenn Preissteigerung vermieden werden soll. Sie darf nur aus echten Ersparnissen finanziert werden, die gerade durch die Mehrbeschäftigung in den jetzt nicht ausgenutzten Anlagen der Konsumgüterindustrie ermöglicht werden (Kapitalbildung aus neuen Löhnen und Gewinn).

8. Die Vorstellung, daß die Kreditausweitung erst von der Vergrößerung der Devisendecke der Reichsbank abhängig zu machen sei, daß also die Reichsbank erst „Spielraum" im Sinne einer erhöhten Deckungsquote gewinnen solle, trifft nicht zu. Nicht der Deckungsprozentsatz, sondern das Verhältnis der Goldmenge zur Warenmenge bestimmt die Preise. Der Devisenbestand ist nicht deswegen zu stärken, weil man dadurch „Spielraum” in der inneren Kreditpolitik gewinnt, sondern weil man dadurch, wie unter 1. erwähnt, die Schuldenregelung dem Ausland gegenüber erleichtert. Dafür ist aber nicht der relative Deckungsprozentsatz, sondern die absolute Devisenmenge maßgebend, die durch innere Kreditausweitungen, wenn sie von keinen Preissteigerungen begleitet sind, in keiner Weise berührt wird, nachdem ja die freie Einlösung durch die Devisenverordnung eingeschränkt ist. Ein inländischer Run auf Gold bzw. Devisen würde – wenn die Devisenverordnungen nicht da wären – auch durch liberalste Einlösung von Papiergeld nicht aufgehalten werden können, wenigstens bei der Höhe des Deckungsbestandes, der in Deutschland bestenfalls erreicht werden kann.

9. Der „psychologische" Einwand, daß die hohe Deckungsquote wegen des im Publikum nun einmal vorhandenen „Deckungswahns" anzustreben sei, um Panik zu verhindern, ist durch die Erfahrungen des Sommers widerlegt worden, als die Panik umgekehrt gerade durch das Festhalten an der Deckungsquote und Ablehnen liberaler Papiergeldauszahlung herbeigeführt wurde, während die später vollzogene Unterschreitung der 40 % igen Deckungsquote keine psychologischen Wirkungen ausgelöst hat. Das gleiche dürfte aber auch von dem modifizierten psychologischen Einwand gelten, der lautet, das Publikum reagiere zwar nicht auf die Senkung der Deckungsquote, wohl aber auf die Vergrößerung der ebenfalls im Reichsbankausweis angeführten Notenmenge; die gehamsterten Noten müßten bei jeder weiteren Notenvermehrung, aus Angst vor Preissteigerung, eine Flucht in die Sachwerte ergreifen und gerade damit eine Preissteigerung herbeiführen, die durch die Kreditausweitung an sich nicht hervorgerufen wäre. Das Vorhandensein eines solchen „Notenmengenwahns" ist aber ebensowenig erwiesen, wie das des „Deckungswahns". Jedenfalls müßte man ihn durch geeignete Aufklärung bekämpfen und ihn nicht erst durch Verdächtigmachung jeder aktiven Kreditpolitik schaffen oder verstärken. Eine viel gefährlichere Inflationsursache als dieser kaum vorhandene „Wahn" ist das Defizit der öffentlichen Verwaltung, das bei steigender Arbeitslosigkeit weiter steigt, und dessen Überwindung durch Abbau der Beamtengehälter unmöglich ist, da dieser Abbau die Arbeitslosigkeit steigert.

10. Durch die Betriebsfinanzierung werden allerdings nur so viel Arbeitskräfte zur Einstellung gelangen, wie es zur Deckung des Vorkrisenbedarfs durch Erzeugung in den besten der vorhandenen Anlagen nötig ist. Alle übrigen Arbeitskräfte bleiben arbeitslos, bis aus neuer Kapitalbildung (siehe unter 6.) neue Arbeitsplätze zur Deckung neuer Bedürfnisse errichtet werden. Nicht alle Betriebszusammenbrüche sind eben als „Reinigungskrise“ zu begrüßen, sondern nur die Stillegung solcher Betriebe, die weniger rentabel sind als die letzten zur Deckung des Vorkrisenbedarfs noch notwendigen Betriebe.

11.Die Kostensenkung durch verbesserte Kapazitätsausnutzung ist dabei noch nicht berücksichtigt worden. Berücksichtigt man diese, so kann man mit einer noch größeren Zahl von Wiedereinstellungen von Arbeitskräften ohne Preissteigerung rechnen.

12. Soweit infolge herrschenden Mißtrauens in die Zukunft private Betriebskredite auch bei starker Verbilligung schwer anzubringen sind, ist staaliches Vorbild notwendig. Doch erzeugt die öffentliche Hand, außer etwas Strom und Gas und bestimmten Beamtenleistungen nur wenig konsumreife Güter.

13. Was die Beamtenleistungen betrifft, so würde allerdings die Finanzierung der Arbeitslosenunterstützung durch Vergrößerung der schwebenden Reichsschuld statt durch Kürzung der Beamtengehälter einen reinen Betriebskredit in unserem Sinne darstellen. Von der reichsbankgesetzlich zugelassenen Grenze des schwebenden Reichsbankkredits an das Reich bzw. Reichsbahn und Reichspost (700 Mill. RM) ist man ja nach der erfolgten Rückzahlung aus den Hoover-Geldern, namentlich wenn man den Rückgriff auf die der Reichsbahn zugeflossenen Mittel ins Auge faßt, wohl wieder etwas entfernt. Die Überschreitung dieser juristisch gegebenen Grenze darf aus psychologischen Gründen nicht erfolgen: mit Recht hat sich seinerzeit der Odysseus-Reich an den Mast reichsbankgesetzlicher Kreditbeschränkung anbinden lassen, um an den Inflationssirenen vorbeisteuern zu können.

14. Zusätzliche Anlagekredite an öffentliche wie an private Unternehmungen verstoßen gegen das bisher Gesagte und drohen mit Preissteigerung. Nur wenn man sich von vornherein Grenzen setzt und die Gewährung von Anlagekrediten an öffentliche Unternehmungen sofort nach eingetretener Steigerung des privaten Vertrauens einstellt, können die Bedenken dagegen zurückgestellt werden, daß man von der bequemeren Steuerung der öffentlichen Initiative, verglichen mit der privaten Initiative Gebrauch macht.

15. Die Wirksamkeit der Kreditverbilligung ist daran gebunden, daß zugleich Unternehmer und Öffentlichkeit über die im Zuge der Krediterweiterung sich einstellende Steigerung des Binnenabsatzes aufgeklärt werden. Alle Vorschläge, die verbilligten Kredite durch besondere Garantien äußerlich herauszuheben, haben lediglich den psychologischen Sinn, das objektiv unberechtigte Mißtrauen zu überwinden.

16. Bloße Sparpolitik bzw. Preis- und Einkommensabbaupolitik mit dem Ziel, das Nominalniveau gegenüber dem Golde zu senken, verliert in dem Maße ihren Sinn, als die anderen Goldstandardländer die gleiche Politik treiben: Der Konkurrenzvorsprung wird dadurch wieder wettgemacht.

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