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Maastricht und das deutsche Interesse

72. Jahrgang, 1992, Heft 10

Thesen über einen Vertrag, der die europäische Integration wesentlich vorantrieb

von Dr. Heinrich Matthes

Die Diskussion über Vorteile und Gefahren der europäischen Währungsunion setzte in der Bundesrepublik anders als in den Partnerländern erst in jüngster Zeit verstärkt ein. Dr. Heinrich Matthes weist vor den anstehenden Ratifikationsverfahren noch einmal in acht Thesen auf die Vorteile der Maastrichter Beschlüsse insbesondere für Deutschland hin.

Heinrich Matthes (geb. 1934) war von 1983 bis 1999 stellvertretender Generaldirektor für Wirtschaft und Finanzen der EG-Kommission.

Die Perspektiven der Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) erscheinen vor dem Hintergrund der jüngsten Ereignisse als etwas belastet. Zumindest entwickelt sich seit dem dänischen Referendum zunehmend ein „retardierendes Moment“. Vor diesem Hintergrund sei nachfolgend noch einmal in acht Thesen erläutert, worum es sich in dem Projekt von Maastricht gerade für uns Deutsche eigentlich handelt:

1. Die Europäisierung der Bundesbank und der deutschen Wirtschaftsordnung – denn nichts Geringeres planen die Maastricht-Verträge – bedeutet für den Rest Europas einen nicht geringeren Schritt als für die Deutschen die Aufgabe der nationalen Währungssouveränität.

In Maastricht ist es Deutschland tatsächlich gelungen, die wesentlichen Elemente seiner erfolgreichen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung in der künftigen europäischen Verfassung fest zu verankern. Dies ist wahrlich kein geringer Erfolg der von Ludwig Erhard konzipierten Sozialen Marktwirtschaft. Das Bestreben, die Herausbildung einer starken übergeordneten Zentralgewalt in Brüssel zu verhindern, begünstigte die ausgesprochen marktwirtschaftliche Grundorientierung der Maastrichter Verträge. Die unabhängige Notenbank bei übergeordnetem Rang der Preisstabilität (dies beendet funktionslose Verteilungskämpfe), flankiert von strikten fiskalpolitischen Grundregeln und dem Prinzip freier Märkte, wirkt in glücklicher Weise in dieser Richtung. Die mangelnde Bereitschaft der beteiligten Regierungen zu echten, neuen Souveränitätsverzichten in Maastricht hat also dialektisch in Richtung auf eine ausgesprochen liberale Grundverfassung gewirkt.

2. Nach dem erfolgreichen Export des deutschen ordnungspolitischen Grundmodells nach Europa kann die künftige europäische Währung zumindest ebenso stabil sein wie heute die D-Mark. Dafür sorgen in Zukunft die primär auf die Geldwertstabilität verpflichtete Europäische Zentralbank, mit den wohltätigen Wirkungen des Stabilitätsprimats auf die „regionale“ Lohnpolitik, sehr eindeutige Vorschriften über gesunde öffentliche Finanzen und der ungleich stärkere und effektivere Wettbewerb im großen europäischen Binnenmarkt mit einer ungehinderten Mobilität von Gütern, Diensten, Kapital und Arbeit. All dies wird in Zukunft in der europäischen Wirtschaftsordnung fest verankert.

Wirtschaftspolitischer Paradigmawechsel

3. Auch vor Maastricht ist freilich die finanzielle Integration bereits weit fortgeschritten. Die Liberalisierung des Kapitalverkehrs trägt zu einer optimalen Allokation des Kapitals in der Gemeinschaft bei. Seit Mitte der 80er Jahre war das EWS der entscheidende Faktor, um die Inflationsraten auf ein niedriges Niveau zu reduzieren. Die zunehmende Glaubwürdigkeit der Stabilitätspolitik und damit das Schwinden von Wechselkursänderungserwartungen ermöglichte es, die relativen Risikoprämien und damit die Zinsdifferenzen deutlich zu reduzieren. Frankreich kann hier als herausragendes Beispiel genannt werden.

Vom wirtschaftlichen Standpunkt würde die Einführung einer Einheitswährung die erreichte Integration zwar quantitativ verstärken, nicht aber qualitativ ändern:

  • die Risikoprämie würde innerhalb Europas auf Null sinken;
  • Transaktionskosten würden im Güter- und Dienstleistungsaustausch entfallen;
  • die Markttransparenz würde zunehmen.

Allerdings können die traditionellen Stabilisierungsinstrumente in der Währungsunion nicht mehr wie bisher eingesetzt werden. Feste Wechselkurse, freier Kapitalverkehr, freie Faktormobilität und autonome Wirtschaftspolitik sind unvereinbar. Dies verlangt gebieterisch nach Autonomieabstrichen. In Europa führt dies zu dem in Maastricht ausgehandelten, bedeutenden wirtschaftspolitischen Paradigmawechsel. Hierbei spielt eine zentrale Rolle, daß dem Staat und den Tarifpartnern in Zukunft direkt und indirekt der Einfluß auf die Zentralbankgeldschaffung genommen wird. War dies beim Staat relativ einfach durch das Maastrichter fiskalpolitische Regelwerk zu erreichen, so haben auch die Tarifpartner im großen europäischen Raum in Zukunft kaum noch eine Chance, die Notenbank bei Fehlverhalten ins akkommodierende Schlepptau zu nehmen. Ohne die krönende Perspektive der Maastrichter Währungsunion bliebe freilich der große Binnenmarkt von 1993 eine höchst instabile Lösung.

Stabilität des Geldwertes

4. Die zentrale Frage, ob in der geplanten Währungsunion die Stabilität des Geldes gewahrt werden kann, ist – institutionell gesehen – vor dem Hintergrund der Maastrichter Verträge positiv zu beantworten. In den Verträgen wurde der künftigen Europäischen Zentralbank (als gleichsam „vierter Gewalt“) nur ein primäres Ziel vorgegeben: die Sicherung der Preisstabilität. Der große europäische Raum wirkt dabei in hohem Maße objektivierend auf diese Zielsetzung. Partikulareinflüsse können im europäischen Zentralbankrat angesichts des Prinzips „one man, one vote“ kaum Einfluß gewinnen. Auch der Grad der Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank ist also dem der Bundesbank zumindest gleichzusetzen. Zudem bedürfte eine Änderung des Maastrichter Vertragswerkes eines einstimmigen Ratsbeschlusses und – wegen der Änderung der Verträge – auch komplizierter Ratifizierungsprozeduren in den individuellen Mitgliedstaaten. Trotzdem wäre es hilfreich, wenn die zukünftigen Mitglieder der Währungsunion schon heute ihrer Zentralbank ein größeres Maß an Autonomie einräumen würden. Auf dem wichtigen Gebiet der Währungspolitik ist die Pflicht der stabilitätspolitischen Rücksichtnahme durch die Regierungen ebenfalls eindeutig geregelt.

5. Können zwar die institutionellen Voraussetzungen einer stabilitätsorientierten Geldpolitik als erfüllt angesehen werden, so ist für ihre Glaubwürdigkeit der Erfolg ebenso entscheidend. Hier sind die Eintrittsvoraussetzungen in den Maastricht-Verträgen so hoch angesetzt, daß Länder mit noch großen Ungleichgewichten und mangelnder Faktorflexibilität zunächst nicht an der Währungsunion teilnehmen können.

So haben Befürchtungen, wonach in einer Währungsunion die Kosten einer unsoliden Fiskalpolitik prinzipiell auf die Gemeinschaft abgewälzt werden könnten, dazu geführt, daß strikte Eintrittsvoraussetzungen für die öffentlichen Haushalte in den Maastrichter Verträgen aufgenommen worden sind. Neben einer grundsätzlichen Stärkung der Rolle der Märkte für den Staatskredit (keine monetäre Finanzierung, keine Vorzugsstellung des Staates als Schuldner, kein „bailing-out“) handelt es sich hier insbesondere um den permanenten „Schuldendeckel“ der Defizit-Obergrenze von 3% des Bruttosozialprodukts. Für den Verschuldungsgrad wird langfristig ein Zielwert von 60% des BSP angestrebt, und bei Eintritt in die Währungsunion sollte sich die Verschuldung dieser Mark „annähern“.

Insbesondere die Erreichung der 3%-Marke wird für einige Länder zu einer ausgesprochenen Bewährungsprobe werden. Hier wird sich zeigen, inwiefern die Länder willens und in der Lage sind, die von der EG postulierte stabilitätsorientierte Politik fiskalpolitisch abzusichern.

Wettbewerb der Standorte

6. Für die Finanzpolitik gilt zwar in Zukunft auf der Gemeinschaftsebene das Subsidiaritätsprinzip, doch kommt es trotzdem zu erheblichen faktischen Beschränkungen der nationalen Fiskalpolitik. Der fiskalpolitische Gestaltungsspielraum wird nämlich nicht nur durch die Referenzwerte des Vertrages eingeengt, sondern darüber hinaus durch die mit der Integration steigende Mobilität der Produktionsfaktoren, vor allem durch den freien Kapitalverkehr. Steuern spielen in einem integrierten Wirtschaftsraum als Standortfaktor eine große Rolle. Das produktiv eingesetzte Kapital wird - bei sonst gleichen Bedingungen - diejenigen Standorte bevorzugen, wo sich der Einsatz des Kapitals (netto) am meisten lohnt.

Durch den Wettbewerb der Standorte wächst also der Harmonisierungsdruck in Richtung auf eine einheitliche und niedrige Besteuerung des Einsatzes und der Erträge der Produktionsfaktoren. Darüber hinaus entsteht auch noch ein erheblicher direkter Harmonisierungsdruck auf die Staatsquote: bedeutet doch die höhere Staatsquote eines Mitgliedslandes bei harmonisierter Staatsverschuldung (Schuldendeckel) eine entsprechend höhere Steuerlast. Ihr werden die Produktionsfaktoren auszuweichen versuchen. Will also eine Region als Produktionsstandort attraktiv bleiben, so darf sie mit ihrer Steuerlast nicht zu sehr vom Gemeinschaftsdurchschnitt abweichen. Damit fördert die WWU die Tendenz zu einer einheitlichen Besteuerung. Im wesentlichen genügt es daher, für die unmittelbar wettbewerbsverzerrenden Steuern Mindestgrenzen zu setzen.

Ein mutiger Anfang

7. Über 30 Jahre lang ist jeder weitere Fortschritt in Europa durch integrationspolitische Maximalkonzepte mit unverkennbarem Abwehrcharakter unmöglich gemacht worden. So gesehen bedeuten die Beschlüsse zum Binnenmarkt sowie ihre Ausweitung in Maastricht den mutigen Anfang in einem Herzstück der künftigen europäischen Wirtschaftspolitik. Für all jene, die es mit Europa ernst meinen, kann die jüngste Krise an den Devisenmärkten vor diesem Hintergrund nur zu einem Resultat führen: den Maastricht-Vertrag entschlossen weiter verfolgen und ihn - wenn erforderlich - sogar noch beschleunigen. Dies wäre im Rahmen der bestehenden Verträge möglich, die es durchaus gestatten, bei qualifizierter Mehrheit im Rat den Beginn der dritten Stufe mit einer Mehrheit der Mitgliedstaaten, wie er bis Ende 1997 erfolgen kann, auch vorzuziehen. Diesen Weg als „kleineuropäische Lösung“ zu diffamieren bedeutet, neue Abwehrideologien zu verkünden. Worauf es ankommt, ist den Vertrag von Maastricht für alle Ratifikationspartner glaubwürdig offen zu halten und ihn dazu zu benutzen, das
EWS in seiner gegenwärtigen „Asymmetrie-Krise“ bald wieder mit glaubwürdigen Erwartungshorizonten auszustatten, welche die Risikoprämien minimieren. Zum ersten Mal seit den frühen achtziger Jahren kann nämlich Deutschland seiner Ankerrolle im EWS nicht mehr ganz gerecht werden: Die deutschen Zinsen wirken in vielen Ländern Europas erdrückend auf das Wachstum.

8. Bedauerlicherweise hat die Diskussion über die Vorteile und Gefahren einer europäischen Währungsunion in Deutschland erst jetzt richtig eingesetzt. In anderen Ländern begann die Auseinandersetzung hierüber früher-und sie war viel intensiver und kontroverser. Ganz abgesehen davon, daß der Maastrichter Vertrag für einen europäischen Staatenbund, ökonomisch gesehen, durchaus die optimale Wirtschaftsordnung darstellt, hat jedoch der Vertrag noch weitergehende Ziele: Er markiert den Beginn eines politischen Einigungsprozesses. Ein Zurückgehen auf den „Status quo ante“ hätte insbesondere für Deutschland als zu spät gekommenen Nationalstaat in Europa erhebliche negative Konsequenzen. Um Alt-Bundeskanzler Schmidt in einem gerade gegenüber dem Figaro gegebenen Interview zu zitieren: „Deutschland ist gefährlich. Nicht wegen seiner Kultur oder seines Volkscharakters, aber wegen unserer Geschichte und unserer geographischen Lage.“ Ohne Maastricht käme es in einem sich ohnehin schon rasant wandelnden Europa zu zusätzlicher politischer Destabilisierung.

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