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Die unbequemen Gutachter

Sachverständigenrat betont Unvereinbarkeit der Ziele des „magischen“ Dreiecks

von Hellmut Hartmann

45. Jahrgang, 1965, Heft 1

Die Veröffentlichung des ersten Jahresgutachtens des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (vgl. Bundestagsdrucksache IV/2890) am 8.1.1965 hat in einigen der vor den Wahlen auf die Erfüllung diverser Stillhalteabkommen bedachten Kreise wie eine Bombe eingeschlagen — allerdings, will uns erscheinen, wie eine Bombe mit Zeitzünder. Denn noch lange nicht sind alle Einzelheiten des Gutachtens von der Öffentlichkeit realisiert worden. Noch lange nicht haben aus dem, insgesamt gesehen, recht brisanten Inhalt die angesprochenen wirtschaftspolitischen Instanzen und Gruppen ihre Schlußfolgerungen für ihr weiteres wirtschafts- und sozialpolitisches Vorgehen gezogen.

Hellmut Hartmann war Chefredakteur des Wirtschaftsdienst von Juli 1964 bis Juni 1966.

Gemäß § 2 des Gesetzes über die Bildung eines Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (im folgenden „Gesetz" genannt) haben die fünf Sachverständigen — die Professoren und Wirtschaftsexperten Bauer (Essen), Binder (Stuttgart), Giersch (Saarbrücken), Koch (Dortmund) und Meyer (Bonn) — einen umfassenden Bericht über die aktuelle gesamtwirtschaftliche Lage gegeben sowie die absehbare Entwicklung für das nächste halbe Jahr dargestellt. Dabei haben sie, in getreuer Auslegung des Gesetzes, untersucht, „wie" — d. h. unter welchen Bedingungen — „im Rahmen der marktwirtschaftlichen Ordnung gleichzeitig Stabilität des Preisniveaus, hoher Beschäftigungsstand und außenwirtschaftliches Gleichgewicht bei stetigem und angemessenem Wachstum gewährleistet werden können." Schließlich haben die Sachverständigen, auf peinliche Erfüllung des Gesetzesauftrages bedacht, „Fehlentwicklungen und Möglichkeiten zu deren Vermeidung oder deren Beseitigung" aufgezeigt, sich jedoch gehütet — was das Gesetz auch ausdrücklich vorschrieb —, Empfehlungen für bestimmte wirtschafts- und sozialpolitische Maßnahmen auszusprechen.

Sorgfältige Lageanalyse

Den größten Raum nimmt in dem Gutachten die Lageanalyse ein. In sieben Kapiteln wird dargelegt, wie sich in der Periode 1950 bis 1963 (teilweise bis 1964) die außenwirtschaftliche Verflechtung auf die Binnenkonjunktur ausgewirkt hat (Kap. 1), wie stark die binnenwirtschaftlichen Auftriebskräfte waren (Kap. 2), wie sich der Angebotsspielraum (Kap. 3), die Einkommen (Kap. 4) sowie Preise und Geldwert (Kap. 5) entwickelt haben, wie das wirtschaftliche Wachstum finanziert worden ist (Kap. 6) und wie die Entwicklung der öffentlichen Finanzen verlaufen ist (Kap. 7). Zum großen Teil enthält die Lageanalyse historische Rückblicke, die einzublenden dem Sachverständigenrat notwendig erschienen, weil sich „wichtige Bedingungen der gegenwärtigen Entwicklung ... nur vor dem Hintergrund längerfristiger Strukturwandlungen richtig beurteilen" ließen. Diese weit ausholende, die Vergangenheit wie die gegenwärtige Situation einbeziehende Analyse stellt zusammen mit dem umfangreichen statistischen Material eine wissenschaftliche Leistung dar, die auch in Zukunft noch ihren Wert behalten wird, zumal eine solch gründliche Analyse der ersten 15 Jahre der wirtschaftlichen Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland bislang nicht vorgelegen hat.

Ziele des „magischen Dreiecks“ heute nicht mehr aufrechtzuerhalten

Die gründliche Untersuchung der relevanten Faktoren wird es schwer machen, das Fazit der Diagnose des Sachverständigenrates zu widerlegen. Und dieses Fazit lautet:

Von den drei im Gesetz genannten Zielen des „magischen Dreiecks" (Preisstabilität, Vollbeschäftigung, außenwirtschaftliches Gleichgewicht) und dem Wachstumsziel erscheint die Stabilität des Preisniveaus gegenwärtig am meisten gefährdet. In deutlichem Kontrast zu den immer wieder beruhigenden Äußerungen der Bundesregierung heißt es wörtlich: „Obwohl Bundesregierung und Bundesbank immer wieder in grundsätzlichen Erklärungen der Stabilität des Preisniveaus und des Geldwertes genauso viel oder mehr Gewicht gegeben haben als der Vollbeschäftigung und dem Wirtschaftswachstum, klafft hier eine Lücke zwischen Ziel und Wirklichkeit, die sehr viel größer ist und die auch durch weitherzige oder sophistische Auslegungen des Begriffes der Geldstabilität nicht zum Verschwinden gebracht werden kann." Was die Ursachen für diesen Geldwertschwund anlangt, so unterscheidet sich die Aussage des Sachverständigenrates ebenfalls nicht unerheblich von den üblicherweise von amtlicher Stelle ausgegebenen und von verschiedenen Seiten begierig aufgegriffenen Parolen, nach denen die Sozialpartner oder die öffentliche Hand mit ihren „maßlosen" Forderungen und Ausgabenwünschen an den Preissteigerungen die Hauptschuld trügen. Ganz im Gegenteil wird etwa den Gewerkschaften bescheinigt, daß sie mit ihren Lohnforderungen in der Regel auf die konjunkturelle Entwicklung Rücksicht genommen haben: „Sie waren im Vergleich zu ausländischen Gewerkschaften im großen und ganzen verhältnismäßig zurückhaltend." Trotz dieser sehr deutlichen Worte läßt sich der Sachverständigenrat — was seinen Willen zur unabhängigen Sachlichkeit erkennen läßt — zu keinem vorschnellen Urteil hinreißen: „Ob der bisherige Geldwertschwund mehr auf einem Nachfragesog beruhte als auf einem Kostendruck; ob ein etwaiger Kostendruck mehr auf die Verteuerung von Kostengütern ... zurückging als auf einen Lohndruck; und in in welchem Maße ein etwaiger Lohndruck nichts anderes war als die Folge eines zunehmenden Arbeitskräftemangels: Diese Fragen, die sich aufdrängen, lassen sich aus methodologischen Gründen nicht so einwandfrei beantworten, daß kein Zweifel an der Objektivität der Aussage bliebe." Und er fährt fort, daß abgesehen hiervon jede Zurechnung einer Geldentwertung auf Ursachen im Inland zu einem höchst fragwürdigen Unterfangen werde, „solange das Land so stark in die internationale Wirtschaft integriert ist wie die Bundesrepublik und dabei immer wieder zu übermäßigen außenwirtschaftlichen Überschüssen neigt." So könne man, ohne zu übertreiben, sagen, daß die Hauptquelle des Geldwertschwundes in der Außenwirtschaft liegt.

Hauptursache für Geldwertschwund: Aussenwirtschaft

Hiermit hat der Sachverständigenrat eine Ursache für den Geldwertschwund genannt, die in der Tat nicht zu übersehen ist. Sicher wird es einige geben, die dieser Formulierung, daß sie „die Hauptquelle" sei, nicht zustimmen wollen. Aber auch diese Kritiker werden schwer bestreiten können, daß sie eine der wichtigsten ist. So werden sie auch der Aussage zustimmen müssen, daß, solange diese Gefahr des Inflationsimports nicht gebannt ist, der Geldwert in der Bundesrepublik auf die Dauer nicht stabil gehalten werden kann. „Wenn trotzdem von der öffentlichen Hand und den Sozialpartnern immer wieder jene Zurückhaltung gefordert wird, die der Geldwertstabilität an sich gemäß ist, so ist dies also nichts mehr als ein Versuch mit unzureichenden Mitteln. Zudem sind solche Appelle unter solchen Bedingungen auch deshalb fragwürdig, weil dadurch diejenigen enttäuscht werden, die sich im Interesse der Geldwertstabilität tatsächlich zurückhalten und daher erwarten, daß ihre Zurückhaltung durch Geldwertstabilität honoriert wird."

Wenn diese Formulierung auch ein wenig überspitzt sein mag, so kann doch nicht geleugnet werden, daß in ihr mehr als nur ein Körnchen Wahrheit enthalten ist. Enthaltsamkeit allein kann niemals einen Sinn haben, zumal sie, wenn ihr einmal ein gewisser Erfolg beschieden sein sollte, lediglich dazu führen muß, daß das Ungleichgewicht in der Handelsbilanz größer wird und auf diese Weise die Preise wieder in die Höhe gedrückt werden.

Kein Plädoyer für nationalen Alleingang

Einen Ausweg aus diesem Dilemma, der Gefahr eines ständigen Inflationsimports, sieht der Sachverständigenrat in einem System fester Wechselkurse nur dann, wenn in weltweitem Maßstab monetäre Disziplin geübt wird. Da hierauf die Instanzen der Wirtschaftspolitik in der Bundesrepublik keinen Einfluß haben und der Sachverständigenrat die Möglichkeit, daß andere Länder von sich aus zu einer solchen Politik umschwenken, für gering hält, kann es bei Aufrechterhaltung der anderen Ziele des magischen Dreiecks ohne Einbußen des wirtschaftlichen Wachstums und bei Einhaltung der im Gesetz genannten marktwirtschaftlichen Rahmenbedingungen eine Lösung nur innerhalb eines Systems flexibler Wechselkurse geben.

Es fällt schwer, sich vorzustellen, daß eine solch unbestreitbare Feststellung, die zu treffen der Sachverständigenrat durch Gesetz verpflichtet war, einen solchen Entrüstungssturm bei Regierung und Öffentlichkeit auslösen konnte.

Unverständlich bleibt auch, wieso sowohl ein Teil der Presse als auch die Bundesregierung in ihrer Stellungnahme von einem vom Sachverständigenrat empfohlenen „Alleingang" in währungspolitischer Hinsicht sprechen konnten. An keiner Stelle des Gutachtens findet sich hierfür ein Hinweis. Wenn davon gesprochen wird, daß allein die „volle Flexibilität des Wechselkurses ... die Freiheit (gibt), eine wirksame Politik der Geldwertstabilität zu treiben, ohne daß von Zeit zu Zeit ein Deflationsdruck aus geübt zu werden brauchte", so ist das noch lange kein Vorschlag an die Bundesregierung, „nach einem Ausweg im nationalen Alleingang zu sinnen". Und ebensowenig läßt sich aus dieser Formulierung des Sachverständigenrates eine „unrealistische Vorliebe ... für fluktuierende Wechsekurse" ablesen.

Die Stellungnahme der Bundesregierung

Was heißt zudem „fluktuierende" Wechselkurse? Dieser Ausdruck, den die Bundesregierung offenbar in der Absicht verwendet, deutlich zu machen, daß nach ihrer Ansicht die Kurse in einem System flexibler Wechselkurse ständig schwanken müßten, ist im Gutachten nicht ein einziges Mal enthalten. Im Gegenteil, der Sachverständigenrat hat Grund zu der Annahme, daß die Gefahr starker Ausschläge des Wechselkurses gering sei, sofern unsere Partnerländer eine Politik der internen finanziellen Stabilität trieben, selbst — so muß man wohl hinzufügen — wenn dieser Politik nicht in allen Ländern der gleiche Erfolg beschieden sein mag, wie das zur Zeit etwa für Frankreich zutrifft.

Um es deutlich zu sagen: Hier soll nicht für einen Übergang zu flexiblen Wechselkursen plädiert werden, weder im nationalen Alleingang noch im Rahmen der EWG — das sind Fragen, die auf einem anderen Blatt stehen —; hier soll lediglich darauf hingewiesen werden, daß man sich die Kritik am Gutachten des Sachverständigenrates nicht allzu leicht machen darf und daß man den Gutachtern nicht Dinge unterstellen darf, die sie gar nicht geschrieben haben. Damit wird man der Arbeit nicht gerecht.

Das Fazit des Gutachtens, daß bei den heute im nationalen wie internationalen Bereich vorhandenen Gegebenheiten das Ziel der Preisstabilität bei Aufrechterhaltung des marktwirtschaftlichen Rahmens zusammen mit den Zielen des außenwirtschaftlichen Gleichgewichts, der Vollbeschäftigung und des Wirtschaftswachstums nicht garantiert werden kann, bleibt so lange unangetastet, wie es nicht mit sachlichen Argumenten widerlegt wird. Bisher ist das nicht geschehen, am allerwenigsten durch die Stellungnahme der Bundesregierung, die auch hier wieder den Eindruck erwecken möchte, als sei das von den Gutachtern aufgezeigte Dilemma nicht existent und als könne sie trotz aller vorgetragenen Argumente ihre alte Politik der Preisstabilisierung mit Erfolg fortführen. So betont die Regierung denn auch, daß niemand „aus der Mitverantwortung für die Preisstabilität in der Bundesrepublik entlassen" werden könne, hebt an anderer Stelle hervor, „daß sich die Lohnsteigerungen 1965 in dem vom Sachverständigenrat angegebenen Rahmen halten" müßten, und verweist noch einmal auf ihre Wirtschaftsberichte 1963 und 1964, in denen sie sich zu den „Gefahren übertriebener Lohnforderungen" geäußert habe.

Ergebnisse des Sachverständigengutachtens nicht akzeptiert

Damit bekennt sich die Bundesregierung zu derselben Politik, die der Sachverständigenrat in der schon oben zitierten Ziffer 239 seines Gutachtens als gescheitert erklärt hatte. Angesichts dieser, zwischen Sachverständigenbericht und den Konsequenzen, die die Bundesregierung daraus zieht bzw. nicht zieht, klaffenden Lücke stellt sich die Frage, warum überhaupt ein Sachverständigenrat bemüht werden mußte, wenn man doch nicht bereit ist, seine Diagnose vorurteilsfrei zu diskutieren.

Wenn sich die Bundesregierung gegen die vom Sachverständigenrat angedeutete Möglichkeit der Lösung der heute bestehenden Antinomie zwischen den Zielen des magischen Dreiecks, die darin gelegen hätte, darauf zu dringen, im internationalen Rahmen zu einem System flexibler Wechselkurse überzugehen, gewendet hat, so hat sie damit von ihrem Recht, politische Entscheidungen zu fällen, Gebrauch gemacht. Dieses Recht kann ihr niemand bestreiten, über die Zweckmäßigkeit einer solchen Entscheidung kann der eine oder andere zwar anderer Meinung sein. Indessen wird keiner umhin können, diese Entscheidung letztlich akzeptieren zu müssen.

Jedoch zeugt es von keinem besonderen politischen Fingerspitzengefühl, den Rat der Sachverständigen in der Form und mit den Argumenten abzukanzeln, wie sie es in ihrer Stellungnahme getan hat. Der Sachverständigenrat hat der Bundesregierung zwar unbequeme Dinge gesagt. Er hat dies aber in sorgfältiger Abwägung aller relevanten Faktoren getan. Und man kann nicht bestreiten, daß er ein echtes Dilemma aufgezeigt hat. An ihm wird auch die Bundesregierung nicht vorbeikommen können.

Wenn sie trotzdem erklärt, sie wolle „auch 1965 die Politik der Preisstabilisierung konsequent fortführen und weiterhin in allen internationalen Verhandlungen mit größtem Nachdruck für die Priorität dieses Zieles eintreten", so hat sie damit — wie uns scheinen will — zwei Ergebnisse des Gutachtens der Sachverständigen nicht berücksichtigt. Das erste Ergebnis liegt in der Feststellung der Gutachter, daß es wenig realistisch sei, anzunehmen, unsere Partnerländer würden selbst bei stärkerem Drängen von deutscher Seite her zu einer wirklich wirksamen Stabilisierungspolitik übergehen. Das zweite Ergebnis liegt — auf eine Formel gebracht — darin, daß zwischen dem Bemühen um binnenwirtschaftliche Stabilität und der Frage der Notwendigkeit flexibler Wechselkurse in der heutigen weltwirtschaftlichen Situation ein unlösbarer, enger Zusammenhang besteht: Je mehr es nämlich gelingt, die Komponenten der binnenwirtschaftlichen Nachfrage zurückzudrängen — sei es durch Maßhalteappelle oder stärker wirkende Maßnahmen — und damit eine (vorübergehende) Preisstabilität im Inland zu erreichen, desto größer wird in einer sonst inflationierenden Welt das außenwirtschaftliche Ungleichgewicht — und wird bei festen Wechselkursen das Bemühen um Preisstabilisierung zunichte gemacht, aus welcher Situation sich dann der von den Sachverständigen genannte Ausweg anbietet.

So kann es durchaus sein, daß die Bundesregierung bei einem Gelingen ihrer erneut bekräftigten Politik, insbesondere des Festhaltens an festen Wechselkursen und an dem Ziel der binnenwirtschaftlichen Stabilität, auf lange Sicht gezwungen wird, etwas zu tun, was sie erklärtermaßen vermeiden will: entweder die Wechselkurse zu manipulieren oder die Priorität des Ziels der Preisstabilität fallenzulassen.

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