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Die Agenda 2010: Symbol eines wirtschaftspolitischen Kurswechsels

88. Jahrgang, 2008, Heft 3

Ein Zeitgesprächsbeitrag zur Reform des Sozialsystems und Arbeitsmarkts zu Beginn des 21. Jahrhunderts

Von Prof. Dr. Wolfgang Franz*

In seiner Regierungserklärung vom 14. März 2003 stellte der damalige Bundeskanzler Schröder die Grundzüge der Agenda 2010 vor, die eine beeindruckende Liste von Reformideen enthielt, welche dann mit einem bemerkenswerten Tempo auf den Weg gebracht wurden. Bereits rund ein Jahr vorher, am 22. Februar 2002, hatte die Bundesregierung eine Kommission „Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ („Hartz-Kommission“) berufen, die ihren Bericht am 16. August 2002 fertigstellte. Die Agenda 2010 nennt die auf den Vorschlägen der Kommission aufbauenden Hartz-Gesetze explizit als Teil ihrer Strategie.1

Wolfgang Franz, Volkswirt; war von 1997 bis 2013 Präsident des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) in Mannheim und bis Februar 2013 Vorsitzender des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung

Die Agenda 2010 stellte weniger ein detailliert ausgearbeitetes Drehbuch konkreter Reformschritte dar, sondern bedeutete eher eine Chiffre für einen grundlegenden Politikwechsel der seinerzeitigen Bundesregierung. Die Agenda 2010 griff zum einen bereits vorgelegte Überlegungen auf, beispielsweise im Hinblick auf eine Änderung des institutionellen Regelwerkes auf dem Arbeitsmarkt in Anlehnung an die Ergebnisse der Hartz-Kommission. Zum anderen gab sie Anstöße zu weitreichenden wirtschaftspolitischen Projekten, etwa auf dem Gebiet der Steuerreform und des Gesundheitswesens. Die deutsche Wirtschaftspolitik schickte sich an, wenngleich reichlich verspätet, den quälenden Reformstau aufzulösen, den unter anderen Bundespräsident Herzog in seiner bekannten Berliner Rede 1997 („Ruck-Rede“) beklagt hatte.

Fünf Jahre später kann man sich nur schwer des Eindrucks erwehren, dass die Reformmaßnahmen im Rahmen der Agenda 2010 auf Druck politisch links orientierter Gruppierungen wieder zurückgenommen werden (sollen). Zwar bemänteln die betreffenden Politiker diese Gegenbewegung mit der Notwendigkeit, die Agenda 2010 „weiterentwickeln“ zu müssen, aber einzelne Maßnahmen, wie beispielsweise die Verlängerung der Bezugsdauer des Arbeitslosengelds für ältere Arbeitnehmer, bedeuten den Beginn der Demontage der Agenda 2010. Dies ist umso unverständlicher, als sich seit den vergangenen beiden Jahren erste Erfolge auf dem Arbeitsmarkt einstellen, und lässt befürchten, dass der hohe politische Preis, den die Sozialdemokratische Partei Deutschlands als die damals führende Regierungspartei für ihren Reformkurs in Form verlorener Wahlen hat zahlen müssen, vergebens war. Nichts spricht gegen ein „Weiterentwickeln“ der Agenda 2010, wenn damit die notwendige Fortsetzung des Reformkurses gemeint ist.

Damit ist die Thematik dieses Beitrags umrissen. Wie sind einzelne Reformmaßnahmen im Gefolge der Agenda 2010 zu bewerten? Wie muss es weitergehen? Drei Bereiche stehen hierbei im Mittelpunkt: der Arbeitsmarkt, die Unternehmensbesteuerung und die Systeme der Sozialen Sicherung.2

Reformen am Arbeitsmarkt

Wie bereits erwähnt, macht sich die Agenda 2010 Vorschläge der Hartz-Kommission als Teil ihrer Strategie zu eigen. Bereits vor der Agenda 2010 hatte die Bundesregierung ihren Willen bekundet, die Vorschläge der Hartz-Kommission „eins zu eins“ umsetzen zu wollen, sie sollten nicht „zerredet“ werden, was praktisch mit einer Bindung des Gesetzgebers an die Beschlüsse eines in der Verfassung nicht vorgesehenen und demokratisch nicht legitimierten Gremiums einherging und zu entsprechend kritischen Diskussionen führte. Ziemlich riskant war ferner der mit dieser vorbehaltlosen Zusage einer Umsetzung implizierte Nachteil einer unzureichenden wissenschaftlich fundierten Exante-Tauglichkeitsüberprüfung der Empfehlungen der Hartz-Kommission, zumal in ihr Wissenschaftler aus dem Bereich der Ökonomie unter repräsentiert waren. Daher nimmt es nicht wunder, dass die Erfolgsbilanz der Agenda 2010 im Hinblick auf den Arbeitsmarkt gemischt ausfällt, obschon die positiven Aspekte überwiegen.

Das Kernstück der Reformen am Arbeitsmarkt betrifft zielführende oder zumindest in die richtige Richtung gehende Reformen beim System der Lohnersatzleistungen. Andere Elemente der Agenda 2010, die auch auf Vorschlägen der Kommission „Moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ beruhen, wie etwa Personal-Service-Agenturen oder Mini-Jobs, sind dagegen weitaus skeptischer zu beurteilen.

Die seinerzeitige Kürzung der maximalen Bezugsdauer des Arbeitslosengelds auf in der Regel zwölf Monate und 18 Monate für Ältere war ein zielführender Schritt. Empirische Studien belegen, dass die Dauer der Arbeitslosigkeit in erster Linie von der Zeitperiode einer Anspruchsberechtigung auf Arbeitslosenunterstützung und weniger von deren Höhe beeinflusst wird. Die mit Beginn des Jahres 2008 in Kraft getretene Wiederanhebung auf bis zu 24 Monate stellt daher einen wirtschaftspolitischen Fehler dar. Das Argument, längere Beitragszeiten bei der Arbeitslosenversicherung müssten zu einer ausgedehnteren Bezugsdauer des Arbeitslosengelds führen, klingt zwar populär und mag wählerwirksam sein, verkennt jedoch den Charakter der bestehenden Arbeitslosenversicherung. Sie ist – wie eine Kranken- oder Hausratsversicherung – kein Sparplan, sondern eine Risikoversicherung, bei der im Gegenzug für die Beiträge die Versicherungsleistung im Schadensfall in voller Höhe und unabhängig von der Dauer des Versicherungsverhältnisses gewährt wird. Für einen völlig anderen Typ einer Arbeitslosenversicherung etwa in Form von Ansparkonten zu plädieren, ist legitim, doch in der Arbeitslosenversicherung als Zweig der Sozialversicherung haben die vorgenommenen Korrekturen konzeptionell keinen Platz, sie führen in die Irre.

Die Zusammenlegung der früheren Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe zum Arbeitslosengeld II stellt einen sehr wichtigen Schritt zu einem funktionstüchtigen Unterstützungssystem bei Arbeitslosigkeit dar. Allerdings muss dieser Weg weiter beschritten und die Bezeichnung überdacht werden. Der Name Arbeitslosengeld II suggeriert fälschlicherweise, es handele sich um eine Versicherungsleistung wie das Arbeitslosengeld. Tatsächlich stellt das Arbeitslosengeld II eine Fürsorgeleistung der Gesellschaft dar, mit der – allerdings häufig als unwillkommen empfundenen – Implikation, dass erstens die Leistung nur bei Bedürftigkeit gewährt wird, eigenes Einkommen oder Vermögen folglich vorrangig einzusetzen ist, und zweitens die Gesellschaft einen Anspruch auf Gegenleistungen der Transferempfänger besitzt, nämlich in Form einer intensiven Suche nach einem Arbeitsplatz und von Arbeitsleistungen. Damit sind zugleich weitere Reformnotwendigkeiten angesprochen, nämlich das „Fördern und Fordern“ gleichgewichtig zu verstärken.

Diesbezügliche Vorschläge stammen von verschiedenen Institutionen und ähneln häufig einander. Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung hat ein zielgerichtetes Kombilohnmodell entwickelt, welches im Wesentlichen auf drei Säulen beruht.3 Erstens können Empfänger von Arbeitslosengeld II in höherem Umfang Arbeitseinkommen beziehen, ohne dass dieses ganz auf die Unterstützungszahlungen angerechnet wird. Konkret schlägt der Sachverständigenrat für Bruttoeinkommen zwischen 200 Euro und 800 Euro eine Senkung der Transferentzugsrate von derzeit 80% auf 50% vor. Im Gegenzug wird der Regelsatz des Arbeitslosengelds II für erwerbsfähige Mitglieder einer Bedarfsgemeinschaft um 30% abgesenkt. Drittens können Personen, die auf dem ersten Arbeitsmarkt keinen Arbeitsplatz finden, ihre Unterstützungsleistungen durch Tätigkeiten auf dem zweiten Arbeitsmarkt („Arbeitsgelegenheiten“) wieder auf das gegenwärtige Niveau des Arbeitslosengelds II bringen. Die Arbeitsgelegenheiten gewährleisten mithin nicht nur das bisherige Mindestsicherungsniveau. Da sie gleichzeitig eine einzufordernde Gegenleistung der Arbeitslosen sind, erleichtern sie im Sinne einer Beweislastumkehr die eventuell notwendige Überprüfung der Arbeitsbereitschaft.

Die Agenda 2010 hat mit dem Arbeitslosengeld II bei aller berechtigten Detailkritik eine bedeutende Basis für eine erfolgversprechende Bekämpfung der Arbeitslosigkeit insbesondere im Bereich gering qualifizierter Arbeit gelegt. Anderen Elementen der Reformen auf dem Arbeitsmarkt kann dies nicht uneingeschränkt bescheinigt werden, teilweise erwiesen sie sich als komplette Fehlschläge. Ein Beispiel dafür sind die „Personal-Service- Agenturen“. Nach eigenem Bekunden der Hartz-Kommission stellten sie „das Herzstück des Abbaus der Arbeitslosigkeit“ dar. Davon konnte nicht im Entferntesten die Rede sein, was von Seiten der Wissenschaft auch umgehend thematisiert wurde.4

Ein weiteres Beispiel für problematische Entwicklungen sind die in der Agenda 2010 aufgeführten geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse, die im Hinblick auf die Steuer- und Abgabenbelastung privilegiert sind. Bei diesen Erwerbstätigen handelt es sich zu einem erheblichen Teil um Hausfrauen, Rentner, Schüler und Studierende, also nicht um eine Gruppe, auf die sich Maßnahmen zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit prioritär richten sollten. Ernstzunehmende Befürchtungen bestehen jedoch dahingehend, dass erstens die geringfügige Beschäftigung, die im Unternehmensbereich ausgeübt wird, dort andere sozialversicherungspflichtige Beschäftigung verdrängt. Zweitens erwächst aus den Mini-Jobs eine wirkmächtige Konkurrenz für gering qualifizierte Empfänger von Arbeitslosengeld II, die sich auf Grund hoher Transferentzugsraten schlechter stellen als ein Mini-Jobber. Die erhoffte Brückenfunktion zum ersten Arbeitsmarkt dürfte sich nach empirischen Studien in engen Grenzen halten.

Zu Besorgnis geben Mini-Jobs und andere Regelungen aber noch aus einem grundsätzlichen Blickwinkel Anlass. Der Arbeitsmarkt wird durch die Schaffung oder Neuordnung spezieller, atypischer Beschäftigungsformen an den Rändern liberalisiert. Der Sachverständigenrat hat seinerzeit bereits darauf aufmerksam gemacht, dass es besser wäre, den erkannten Anpassungsdruck gleichmäßiger auf alle Beschäftigten zu verteilen, anstatt letztlich eine Zwei-Klassen- Gesellschaft zu etablieren.5

Steuerpolitik

In der Agenda 2010 kommt die Notwendigkeit von Wachstumsimpulsen für die deutsche Volkswirtschaft mit Hilfe von Steuersenkungen deutlich zum Ausdruck. Die Rede ist von einem Vorziehen der dritten Stufe der damaligen Steuerreform, die eine Senkung des Eingangssteuersatzes der Einkommenssteuer auf 15% und des Spitzensteuersatzes auf 42% mit sich brachte. Ergänzt wurde der Wachstumsaspekt indessen in einer Presseerklärung des Bundesministeriums der Finanzen Ende Juni 2003 durch den Nachfrageaspekt, indem „… den Bürgerinnen und Bürgern mehr Geld in die Taschen gegeben und Konsum und Wachstum gefördert werden“. Unter der Prämisse einer Nachfragestimulierung wurde das Vorziehen der Steuerreform mit einer höheren Neuverschuldung der öffentlichen Haushalte finanziert.

Den leichten Konjunktur stimulierenden Effekten sind aber mögliche langfristige negative Wirkungen gegenzurechnen. Nicht nur trug die zusätzliche Neuverschuldung dazu bei, dass Deutschland im Jahr 2004 zum dritten Mal in Folge gegen die Defizitbegrenzungen des Stabilitäts- und Wachstumspaktes verstieß, obwohl die Fiskalpolitik im Jahr 2004 in der Summe restriktiv war, da bei den Ausgaben noch stärker zurückgefahren wurde. Sondern eine diskretionäre antizyklische Finanzpolitik unterliegt erheblichen Begrenzungen, die ihre Wirksamkeit beträchtlich einschränken, wenn nicht sogar ins Gegenteil des Gewünschten verkehren. 6 Die konjunkturpolitische Dimension dieses Aspektes der Agenda 2010 unterliegt mithin einer skeptischen Einschätzung.

Dieses Bild hellt sich auf, wenn man, wie bereits erwähnt, den Bogen von der Agenda 2010 zu nachfolgenden Reformen – zugegebenermaßen weit – spannt, in diesem Fall zur Unternehmensteuerreform, die fünf Jahre nach der Agenda 2010 in Kraft trat. Der wirtschaftspolitische Kurswechsel, für den die Agenda 2010 als Chiffre steht, war von der Erkenntnis geprägt, dass Deutschland im Hinblick auf die Unternehmensteuerbelastung im internationalen Vergleich seinerzeit ein Hochsteuerland war, wie Berechnungen des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) eindrucksvoll belegten.7 Folgerichtig wurde eine Unternehmenssteuerreform mit dem Ziel einer Verbesserung der steuerlichen Standortbedingungen in Angriff genommen, begleitet von einer Reihe von wissenschaftlichen Gutachten, insbesondere des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, des Max-Planck-Instituts für Geistiges Eigentum, Wettbewerbs- und Steuerrecht und des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW),8 aber zudem seitens einer Kommission der Stiftung Marktwirtschaft. Die Vorschläge der Wissenschaft gingen aber nur teilweise in die Unternehmensteuerreform ein, wie etwa die Entscheidung für eine Duale Einkommensteuer. Immerhin wurde die steuerliche Standortattraktivität Deutschlands deutlich verbessert, wohingegen das ebenfalls wichtige Kriterium für die Effizienz eines Steuersystems, nämlich seine Entscheidungsneutralität bezüglich des Finanzierungswegs einer Investition und der Wahl der Rechtsform des Unternehmens, gravierend verletzt wurde. Nach der Reform ist somit vor der Reform.

Soziale Sicherung

Die Agenda 2010 befasst sich im Rahmen der Systeme der sozialen Sicherung vornehmlich mit der Gesetzlichen Krankenversicherung und der Gesetzlichen Rentenversicherung.

Die wesentlichen Ausführungen der Agenda 2010 zur überfälligen Reform des Gesundheitswesens beziehen sich auf das „Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung“ (GKV Modernisierungsgesetz), welches dann mit Beginn des Jahres 2004 in Kraft trat. Dieses stellte nun alles andere als den erhofften „großen Wurf“ dar, sondern enthielt im Wesentlichen Spar- und Umfinanzierungsmaßnahmen, die Beitragssenkungen ermöglichen sollten, wie etwa die Einführung einer Praxisgebühr, eine Tabaksteuererhöhung als Finanzierungsbeitrag, die indes zunächst statt der erhofften Mehreinnahmen Einnahmeausfälle mit sich brachte, und Änderungen im Arzneimittelbereich sowie bei den Zahnersatzleistungen. Keines der beiden grundlegenden Reformmodelle – Bürgerversicherung oder Bürgerpauschalen – wurde umgesetzt. Die Agenda 2010 – in der Fassung vom November 2003 – erwähnt diese Vorschläge der „Kommission für die Nachhaltigkeit in der Finanzierung der Sozialen Sicherungssysteme“ („Rürup-Kommission“), die ihren Bericht Ende August 2003 vorlegte, in einem Glossar, verweist sie aber ausdrücklich als außerhalb der Agenda 2010 diskutierte Modelle.

Weitere Vorschläge zu einer Reform des Gesundheitswesens stammen unter anderem vom Kronberger Kreis der Stiftung Marktwirtschaft und vom Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung.9 Nicht nur vergab bereits die Agenda 2010 damit eine große Chance, sondern in den darauffolgenden Jahren erfolgte eine Umgestaltung der Gesetzlichen Krankenversicherung,9deren veränderte Finanzierung in Gestalt eines Gesundheitsfonds zu Recht heftig kritisiert wurde; der Sachverständigenrat bezeichnete ihn gar als „Missgeburt“.10 Unter diesem Aspekt waren die Agenda 2010 und die anschließende Gesundheitspolitik ein Fehlschlag.

Anders stellt sich die Situation bei der Gesetzlichen Rentenversicherung dar. Hier enthält die Agenda 2010 bereits eine Reihe zielführender Ankündigungen wie beispielsweise die Einführung eines „Nachhaltigkeitsfaktors“ bei der Rentenanpassung – nachdem dieselbe Bundesregierung einen allerdings auf einer anderen Funktionslogik basierenden „Demographiefaktor“, wie er von ihrer Vorgängerregierung beschlossen und erstmals für das Jahr 1999 geplant war, abgeschafft hatte –, einen erhöhten Beitrag der Rentner zur Pflegeversicherung, eine Aussetzung der Rentenanpassung im Jahr 2004 sowie die Ankündigung (im Glossar der Agenda 2010), ab dem Jahr 2005 schrittweise die nachgelagerte Besteuerung der Renten einzuführen.

Am Ende dieses Reformweges beschloss die derzeitige Bundesregierung zu Beginn der Legislaturperiode die gleitende Heraufsetzung des gesetzlichen Renteneintrittsalters auf 67 Jahre. Die „Rente mit 67“ mag sicherlich den Geist der Agenda 2010 atmen, wurde indes von der rot-grünen Koalition zumindest offiziell dezidiert abgelehnt. Sofern es trotz erheblichen Drucks politischer Gruppierungen, die „Rente mit 67“ wieder zu verwässern, bei diesen Festlegungen bleibt, hat die Politik damit die letzte wichtige Maßnahme verabschiedet, um die Gesetzliche Rentenversicherung auf absehbare Zeit gegen die aus der Bevölkerungsalterung erwachsenden Probleme abzusichern, die Nachhaltigkeit der Gesetzlichen Rentenversicherung wurde deutlich erhöht. Jetzt kommt es darauf an, Versuchen zu widerstehen, diese Reformmaßnahmen wieder in Frage zu stellen. Das Erreichte darf nicht verspielt werden, wie es der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung im Titel seines Jahresgutachtens 2007/08 zum Ausdruck bringt.

Fazit

Begreift man die Agenda 2010 in erster Linie als Zeichen für einen wirtschaftspolitischen Kurswechsel der seinerzeitigen Bundesregierung, belegen die nachfolgenden Umgestaltungen im Bereich der Arbeitsmarktverfassung, der Unternehmensbesteuerung und der Systeme der sozialen Sicherung die hohe Bedeutung der Agenda 2010, obwohl Teile dieser Reformen nicht zielführend oder zumindest wichtige Details kritikwürdig sind. Die Erfolge der sinnvollen Reformen jetzt aber aufs Spiel zu setzen, wie etwa durch die Einführung von Mindestlöhnen, bedeutet eine gravierende wirtschaftspolitische Fehlentwicklung, von der damit einhergehenden Demontage der Agenda 2010 ganz abgesehen. Hier ist ein Umschwenken erforderlich, gegebenenfalls in Form einer Agenda 2015.

 

* Die folgenden Ausführungen stützen sich auf einzelne Jahresgutachten des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Der Beitrag steht jedoch in der alleinigen Verantwortung des Verfassers. Für eine kritische Durchsicht des Textes und wertvolle Hinweise danke ich Stephan Kohns und Bert Rürup.

1 Grundlage dieses Beitrags ist nicht die Rede von Bundeskanzler Schröder vor dem Deutschen Bundestag, sondern der vom Presse- und Informationsamt der Bundesregierung herausgegebene Text: Agenda 2010. Deutschland bewegt sich, November 2003 (archiv.bundesregierung.de/artikel/81/557981/ attachment/557980_0.pdf).

2 Eine Beschreibung der Inhalte der Agenda 2010 und deren Bewertungen finden sich in mehreren Gutachten des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, beginnend mit dem Jahresgutachten 2003/04: Staatsfinanzen konsolidieren – Steuersystem reformieren, Ziffern 395 ff.

3 Vgl. Sachverständigenrat: Arbeitslosengeld II reformieren: Ein zielgerichtetes Kombilohnmodell. Expertise des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung im Auftrag des Bundesministers für Wirtschaft und Technologie, Wiesbaden 2006.

4 Vgl. unter anderem: den Brief an den Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit vom 10./11. Oktober 2002, S. 2241 ff.; Der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie: das Gutachten Die Hartz-Reformen – ein Beitrag zur Lösung des Beschäftigungsproblems?, 15./16. November 2002, S. 2245 ff., Sammelband der Gutachten von 1998 bis 2007, Stuttgart 2008.

5 Vgl. Sachverständigenrat: Die Chance nutzen – Reformen mutig voranbringen, Jahresgutachten 2005/06, Wiesbaden 2006, Ziffer 260.

6 Sachverständigenrat: Jahresgutachten 2003/04, a.a.O., Ziffern 399 ff.

7 O. H. Jacobs, C. S p e n g e l : Effective Tax Burden in Europe, Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung, in: ZEW Economic Studies, 15, Heidelberg 2002.

8 Bundesministerium der Finanzen (Hrsg.): Reform der Einkommens- und Unternehmensbesteuerung durch die Duale Einkommensteuer, Schriftenreihe Band 79, Bonn 2006.

9 J. B. Donges, J. Eekhoff , W. F r a n z , W. Möschel, M. J. M. Neumann, O. Sievert: Mehr Eigenverantwortung und Wettbewerb im Gesundheitswesen, in: Schriftenreihe der Stiftung Marktwirtschaft, Band 39, Berlin 2002; Sachverständigenrat: Jahresgutachten 2003/04, a.a.O., Ziffern 306 ff.

10 Sachverständigenrat: Widerstreitende Interessen – Ungenutzte Chancen, Jahresgutachten 2006/ 07, Wiesbaden 2006, Ziffern 280 ff.

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