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Chancen und Risiken der EG-Erweiterung

58. Jahrgang 1978, Heft 12

Der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelstages über die Ausdehnung der EG nach Spanien, Portugal und Griechenland

von Otto Wolff von Amerongen

Chancen und Risiken: beides birgt die anstehende Süderweiterung der Europäischen Gemeinschaft um die Mittelmeerländer Griechenland, Spanien und Portugal. Die politischen Weichen sind längst gestellt, und von den Sachverhandlungen über die Beitrittskonditionen wird es abhängen, ob die Chancen genutzt und die zweifellos vorhandenen Klippen umschifft werden.

Otto Wolff von Amerongen (1918-2007), deutscher Industrieller. Von 1940 bis 1986 leitete er den Otto-Wolff-Konzern, der in den 1960er Jahren zu den größten Handelsunternehmen der Bundesrepublik gehörte. Von 1969 bis 1988 war von Amerongen Präsident des Deutschen Industrie- und Handelstages (DIHT, seit 2001 Deutscher Industrie- und Handelskammertag (DIHK)). Er gehörte dem inneren Kreis der einflussreichen Bilderberg-Gruppe an und war Mitglied des Präsidiums der Europa-Union Deutschland, die sich für europäische Integration einsetzt. Von 1955 bis 2000 leitete von Amerongen den Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft und baute wirtschaftliche Kontakte zur Sowjetunion auf.

Foto: BArch, B 145 Bild-F052084-0041 / Wegmann, Ludwig / CC-BY-SA 3.0

Die deutsche Wirtschaft hat stets deutlich Ja gesagt zu den Beitrittswünschen dieser Länder. Die Gemeinschaft muß sie aufnehmen, denn sie gehören zu Europa. Hingewiesen hat die deutsche Wirtschaft aber auch auf die Schwierigkeiten, Länder mit so unterschiedlichem wirtschaftlichen Niveau in die Gemeinschaft zu integrieren. Denn eines ist klar: Mehr noch als mit der Erweiterung von sechs Mitgliedsstaaten auf neun handelt es sich diesmal um eine fundamentale Neuordnung des europäischen Wirtschaftsraumes mit weitreichenden Folgen das gesamte internationale Wirtschaftssystem. Zudem fallen die Gespräche über die Süderweiterung in eine Zeit, in der die Neuner-Gemeinschaft mit konjunkturellen und strukturellen Sorgen belastet ist. Hinzukomm ein wieder anschwellender Protektionismus. Die alles engt den Spielraum der nationalen Regierungen bei ihrer Europapolitik erheblich ein. Wir sollten uns den Blick auf diese Realitäten nicht verstellen lassen und nicht versuchen, Befürchtungen und Sorgen mit frommen Erwartungen wegzuwischen.

Wichtige Partner

Gleichzeitig aber müssen wir übertriebenem Pessimismus wehren. Wir würden uns der Chancen auf diesen Märkten begeben, wenn wir nicht gangbare Wege finden, Spanien, Griechenland und Portugal an die Gemeinschaft zu binden. Die Beitrittskandidaten sind wichtige potente Partner der Unternehmen der Gemeinschaft und auch der deutschen Wirtschaft. Eine Umfrage des DIHT bei den Inlands- und Auslandskammern über die Auswirkungen der Erweiterung zeigt, daß die Unternehmen beträchtliche Chancen für die Ausweitung ihrer Geschäftsverbindungen sehen und sich stärkere Impulse von einem größeren Markt versprechen. Verhehlt wird aber nicht, daß erhebliche Anpassungsprobleme zu lösen sind.

Das setzt voraus, daß die Gemeinschaftspolitiken  auf den verschiedenen Feldern differenzierte Wege beschreiten müssen. Aus der Sicht der Wirtschaft könnten damit die Ziele der Verträge von Paris und Rom schwerer verwirklicht werden. Trotzdem gilt es, die Bemühungen um eine Vertiefung und den Ausbau der Integration fortzusetzen, um die wachsende Tendenz zur Renationalisierung der Märkte und ein Abgleiten in eine bloße Freihandelszone aufzuhalten und ihr entegegenzuwirken.

Trotz der unzureichenden Infrastruktur in den drei Beitrittsländern und der strukturellen Schwächen der gesamten Wirtschaft, die Zweifel daran aufkommen lassen, ob diese Staaten schon auf die Mitarbeit im Gemeinsamen Markt vorbereitet sind, sieht die deutsche Wirtschaft also durchaus günstige Möglichkeiten durch den Beitritt. Die erwarteten Wirtschaftsimpulse kommen indessen nur zum Tragen, wenn es nicht zu einem zusätzlichen Ausbau des bereits jetzt belastenden Bürokratismus und des Protektionismus in Europa kommt. Ebenso sollten unerträgliche zusätzliche finanzielle Belastungen der bundesrepublik Deutschland vermieden werden.

Große Marktchancen

Wie beurteilen die deutschen Unternehmen nun die Aussichten im einzelnen? Der Zollabbau zwischen der EG und den Beitrittsländern hat angesichts der bereits bestehenden nichttarifären Handelshemmnisse unterschiedliche und  nur begrenzte Bedeutung. Hier gilt generell: hochwertige deutsche Erzeugnisse werden sich auch weiterhin gegen Billiglohnkonkurrenz durchsetzen. Dagegen ergeben sich Schwierigkeiten für ausgesprochene Massenprodukte. In den beitrittswilligen Ländern besteht bereits heute zum Teil eine leistungsfähige Industrie, oder es ist eine etablierte Konkurrenz aus den bisherigen EG-Partnerländern vorhanden. Insbesondere im Falle Portugals und Griechenlands stellen die Einfuhr-Lizenzvorschriften erhebliche Hemmnisse dar. Sie müssen aufgehoben werden, da sie den Export in diese Länder zwar nicht verhindern, aber doch stark verzögern.

Auf der Einfuhrseite verfügen die Beitrittsländer über große Marktchancen bei der besonders lohnintensiven Produktion von Massenwaren. Hier ist eine Zunahme der Importe zu erwarten. Dabei haben Einfuhren aus Spanien eine steigende Tendenz, dessen Exportstärke auf erhebliche Exportrückvergütungen zurückzuführen ist. Deshalb erhebt die deutsche Wirtschaft die Forderung, daß die hohen Exportunterstützungen in allen drei Ländern nach dem Beitritt wegfallen. Bei Textilien bietet der sich steigernde Export aus allen drei Ländern für viele deutsche Textilunternehmen die Chance, Rohwaren und Fertigwaren günstiger einzukaufen.

Im Agrarbereich werden die günstigeren Einkaufspriese zu einem Abbau der Monopolstellung Italiens bei manchen Produkten führen. Insgesamt dürfte der bereits jetzt reformbedürftige EG-Agrarmarkt durch den Beitritt der drei Länder zusätzliche Belastungen erfahren. Es droht die Gefahr eines Marktungleichgewichts bei solchen Produkten, bei denen die einzelnen neuen EG-Mitglieder besonders liefer- und leistungsfähig sind. Aufgrund der komplementären Produktpalette ergeben sich für die Bundesrepublik Deutschland mehr Vor- als Nachteile. Dagegen werden zunehmende Marktverschiebungen vor allem in Italien und Südfrankreich eintreten.

Schärferer Wettbewerb

 Im gewerblichen Sektor treten in den Beitrittsländern leistungsfähige Konkurrenten für solche Industrien auf, die sich zur Zeit in einer Strukturkrise befinden. Dies trifft  besonders Teile des Textil- und Bekleidungssektors (einschließlich Schuhe), aber auch zahlreiche Erzeugnisse des Eisen- und Stahlbaues sowie den Schiffbau.

Weitere Probleme werden durch die Übernahme des insgesamt niedrigeren Gemeinsamen Zolltarifs (GZT) und der Zollpräferenzen für die Beitrittsländer entstehen. Die durch die geringeren Importpreise ausgelöste Nachfrageverschiebung wird erhebliche Wettbewerbsschwierigkeiten verursachen. Die Nachteile der bisherigen protektionistischen Politik und der erheblichen Ausfuhrförderung in diesen Ländern werden dann offenkundig.

Dem Abbau von Einfuhrlizenzen und der nichttarifären Handelshemmnisse kommt, wie bereits erwähnt, noch größere Bedeutung als dem Zollabbau zu. Ein schärferer Wettbewerbswind, der nach dem Beitritt blasen wird, darf nicht zur Errichtung weiterer nichttarifärer Barrieren führen. Denn Preisstopps, Devisenbewirtschaftung und Exportsubventionen verhinderten die notwendige Integration der Märkte.

Für deutsche Investitionen in den Beitrittsländern waren in der Vergangenheit vor allem die niedrigen Lohn- und Sozialkosten, der Zollschutz und die restriktiven Importvorschriften sowie die Exportvorteile in Drittländer, aber auch die Steuerprivilegien, die niedrigen Rohstoffpreise und die Einsparung von Frachtkostenausschlaggebende Faktoren. Mit der zu erwartenden Anpassung des Lohnkostenniveaus und dem Wegfall des Binnenmarktschutzes entfallen wichtige Anreize für Investitionen in den neuen EG-Partnerländern, so daß etwa Lohnveredelungen weniger attraktiv werden. Trotzdem wird das Interesse weiterer Branchen an Direktinvestitionen zunehmen, da die Märkte expandieren und aussichtsreiche Absatzchancen für deutsche Produkte bieten.

 Freisetzung von Arbeitskräften

 In allen drei Beitrittsländern droht die Gefahr, daß der Konkurrenzdruck aus den „alten“ EG-Staaten und der Fortfall des bisherigen Marktschutzes zusammen mit der notwendigen Rationalisierung der Industrie zu einer Freisetzung von Arbeitskräften führen, insbesondere im Kleingewerbe und in der Landwirtschaft. Auf der anderen Seite dürfte die Liberalisierung des Handels einen gewissen Kaufkraftzuwachs und  – in dessen Folge – einen Produktionszuwachs hervorrufen, der eine höhere Beschäftigung und eine Rückwanderung von Arbeitskräften aus den „alten“ EG-Staaten bewirkt.

Mit der Freizügigkeit der Arbeitnehmer aus den Beitrittsländern ist auch angesichts der Unterschiede in den ökonomischen, sozialen und politischen Strukturen ein erhebliches Konfliktpotential verbunden, das insbesondere auch die Beziehungen der Gemeinschaft zur Türkei und zu Jugoslawien berührt. Denn durch das Abkommen von Ankara wird die Freizügigkeit der Arbeitskräfte mit der Türkei im Jahre 1986 verwirklicht werden.

 Neuartige Anpassungsprobleme

Die drei Beitrittsländer stehen in ihrer wirtschaftlichen Entwicklung noch an der Schwelle einer Industrialisierung, die die vorwiegend agrarischen Strukturen überwindet. Die erneute Erweiterung der Gemeinschaft auf zwölf Mitglieder kann nach den Erfahrungen mit dem Beitritt Großbritanniens, Irlands und Dänemarkt kaum durch ein einfaches Einbeziehen verwirklicht werden. Vielmehr werden neuartige Anpassungsprobleme in ausreichend bemessener Übergangszeit durch Anstrengungen auf beiden Seiten zu lösen sein. Dieser schrittweise Prozeß sollte Abstufungen vorsehen, innerhalb derer die Anpassung erfolgen kann. Am Ende dieser Phase muß der uneingeschränkte freie Warenverkehr innerhalb der erweiterten Gemeinschaft Wirklichkeit werden.

Der strukturelle Wandel muß nach Auffassung der deutschen Wirtschaft grundsätzlich vom Markt bestimmt werden. Die industrielle Entwicklung in den Beitrittsländern bedarf jedoch zunächst noch einer besonderen sektoralen und regionalen Förderung. Das Entwicklungsgefälle gegenüber den bisherigen EG- Mitgliedern läßt sich dabei nur dann verringern, wenn die Beitrittsländer ein auf die Dauer vergleichsweise höheres Wirtschaftswachstum erzielen. Durch die verschiedenen Finanzierungsinstrumente der Gemeinschaft, den Ausbau des kurzfristigen Währungsbeistands sowie durch ein mittelfristiges finanzielles Aktionsprogramm sollten die von dem erweiterten Absatzmarkt ausgehenden Wachstumsimpulse verstärkt und durch die Förderung der Investitionen in den Beitrittsländern unterstützt werden. Das gilt neben den Investitionen im gewerblichen Bereich vor allem für die Infrastruktur.

Gleiches gilt für die Schaffung von Arbeitsplätzen. Will man die ökonomischen Vorteile der Freizügigkeit für die Beitrittskandidaten sinnvoll nutzen, so sollten arbeitsplatzfördernde Maßnahmen im Vordergrund stehen. Die Verbesserung des Ausbildungsniveaus und seine Angleichung an den Standard in der Gemeinschaft kann in den Beitrittsländern erheblich dazu beitragen, das Beschäftigungsproblem zu lösen. Notwendig ist dabei vor allem eine verstärkte Ausbildung von Technikern auf allen Gebieten, insbesondere in der Metallverarbeitung. Dazu sind gegebenenfalls zusätzliche Mittel des Europäischen Sozialfonds bereitzustellen.

Um die Entscheidungsfähigkeit der Gemeinschaft in der langen Phase der Beitrittsverhandlungen nicht zu belasten, sollten den Kandidaten in der Zeit vor dem Vertragsabschluß keine besonderen Rechte eingeräumt werden. Sobald allerdings die Beitrittsverträge in Kraft sind, sollten die Kandidaten auch für die dann anlaufende Übergangszeit Vollmitglieder mit allen Rechten und Pflichten sein. Eine Beschränkung ihrer Rechte degradierte sie zu Mitgliedern zweiter Klasse und behinderte die Entscheidungsfähigkeit der Gemeinschaft.

Chance für Agrarreform

Ein heißes, wenn nicht das heißeste Eisen sind die Agrarprobleme, deren Lösung für den Erfolg der Beitrittsverhandlungen entscheidend ist. Eine Ausdehnung der gegenwärtigen Agrarpolitik auf die Beitrittsländer würde die schon bestehenden Überschußprobleme verschärfen und die finanziellen Anforderungen an den gemeinsamen Agrarfonds in nicht abzuschätzende Höhen schrauben. Deshalb sollte man die Erweiterungsverhandlungen als Chance für eine ohnedies überfällige Agrarreform mit dem Ziel einer stärkeren Marktorientierung nutzen. Hierzu gehören die Senkung der Interventionspreise, die Ausdehnung der Erzeugerbeteiligung an der Verwertung und die stärkere Verlagerung der Agrarpolitik auf strukturwirksame Maßnahmen. Eine agrarpolitische Reform auf dieser Linie würde auch die protektionistischen Auswirkungen gegenüber Drittlandsimporten mildern. Demgegenüber würde eine Ausweitung des Autarkieniveaus, die leider zu befürchten steht, den Spielraum für Importliberalisierungen, insbesondere im südlichen Mittelmeerraum, aber auch gegenüber den USA, weiter einengen. Die Agrarpolitik, die ohnehin schon Störfaktor der Drittlandsbeziehungen ist, brächte weitere Belastungen, wenn ihre Reform nicht entschlossen angegangen würde.

Die Süderweiterung bringt also nicht nur eine neue Quantität der Gemeinschaft — zwölf statt neun -, sie bringt auch eine neue Qualität. Es treten nicht einfach drei neue Länder ein, vielmehr gibt die Süderweiterung der bisher mitteleuropäisch zentrierten Gemeinschaft eine erheblich breitere, neue Mittelmeerdimension. Um zu einer Koexistenz dieser strukturell sehr verschiedenen Wirtschaften zu kommen, muß in Zukunft der Gedanke der Solidaritätsgemeinschaft zweifellos verstärkt werden. Im Klartext muß dies heißen, daß die Umverteilungsmechanismen innerhalb der EG gestärkt werden müssen. Dieses aber setzt klare politische und wirtschaftspolitische Konzeptionen voraus, die wir in der Folgezeit mit Energie, aber auch mit Augenmaß anpacken müssen.

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