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Eine Zeit der Umbrüche

Ein Chefredakteur über den Wirtschaftsdienst 1983 bis 2007

von Dr. Klaus Kwasniewski

Meine Zeit als Chefredakteur des Wirtschaftsdienst von 1983 bis 2007 war durch weitreichende wirtschaftspolitische und politische Umbrüche gekennzeichnet. Zu nennen sind hier auf nationaler Ebene die neoliberale Wende in der Wirtschaftspolitik der Regierung Helmut Kohl seit Frühjahr 1983, die Vollendung der Deutschen Einheit 1989/1990, die Hartz-IV-Reformen der zweiten Regierung Gerhard Schröder im Jahre 2002 und die Agenda 2010 der Jahre 2003/2005. Auf der Ebene der Europäischen Union kam es in dieser Zeit zu einer gleichzeitigen Vertiefung und Erweiterung der Gemeinschaft auf 27 Mitgliedstaaten. Die wichtigsten Vertiefungsschritte waren die Einführung des Europäischen Binnenmarktes 1993 und des Euro 1999/2002. Und auf der internationalen Ebene begann die Finanzkrise ab Sommer 2007 als Folge eines spekulativ aufgeblähten Immobilienmarkts in den USA (Subprimekrise).

Dr. Klaus Kwasniewski war Chefredakteur von Wirtschaftsdienst und Intereconomics von 1983 bis 2007.

Im Herbst 1982 zerbrach die sozial-liberale Koalition unter Helmut Schmidt nach 13 Jahren wegen unüberbrückbarer Gegensätze über die künftige Wirtschafts- und Sozialpolitik. Unter der christlich-liberalen Koalition von Helmut Kohl kam es zu einem wirtschaftspolitischen Paradigmenwechsel hin zu einer stärker angebotsorientierten Wirtschaftspolitik und weg von der bisher dominierenden nachfrageorientierten Wirtschaftspolitik. Nach den vorgezogenen Neuwahlen im Frühjahr 1983 erfolgten im weiteren Verlauf der 80er sowie der 90er Jahre umfassende Deregulierungen und Privatisierungen in der deutschen Wirtschaft. Hervorzuheben ist hier die Liberalisierung der Ladenschlusszeiten und die Ganz- oder Teilprivatisierung von Unternehmen im Besitz oder Teilbesitz des Bundes. Beseitigt wurden die Netzmonopole der Post und der Bahn. Die Europäische Kommission wiederum wirkte auf die Bundesregierung im Rahmen ihres Binnenmarktprojektes ein, den deutschen Finanzmarkt zu deregulieren und stieß damit zahlreiche entsprechende Initiativen an. Die wirtschaftspolitische Wende und die Liberalisierung und Deregulierung waren Gegenstand zahlreicher Artikel im Wirtschaftsdienst. In den von den Autoren der Redaktion eingereichten Beiträgen spiegelte sich damals der schnelle Paradigmenwechsel von der Nachfrageorientierung zur Angebotsorientierung in den Wirtschaftswissenschaften wider.

Das bedeutendste Ereignis während meiner Zeit als Chefredakteur war der Prozess der Wiedervereinigung 1989/1990, deren wirtschaftliche Aspekte für die Bundesrepublik und Folgen insbesondere für Ostdeutschland in zahlreichen Aufsätzen abgehandelt wurden, in denen auch Alternativen für den Vollzug der deutschen Einheit diskutiert wurden. Eine gleichfalls große Bedeutung kommt der Einführung des Euro 1999/2002 zu, die damals von der überwiegenden Mehrzahl der Autoren des Wirtschaftsdienst wie auch der deutschen Volkswirte kritisch gesehen wurde. Sie sahen die Voraussetzungen für einen einheitlichen Europäischen Währungsraum als nicht erfüllt an und lehnten die Lokomotivtheorie ab, nach der die gemeinsame Währung aus den Sachzwängen heraus zu einer schrittweisen Vereinheitlichung der Wirtschafts- und Finanzpolitik der Mitglieder führen würde. Breiten Raum nahm damals die Diskussion um die Maastricht-Kriterien und die gesetzlich festgelegte Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank im Wirtschaftsdienst ein.

Die zweite Regierung Gerhard Schröder (SPD/Bündnis 90/Die Grünen) setzte von 2003 bis 2005 die Agenda 2010 um, ein Konzept zur Reform des deutschen Sozialsystems und Arbeitsmarktes. Ein Kernstück war die Hartz-IV-Reform von 2002, mit der die Arbeitslosenhilfe mit der Sozialhilfe verschmolzen und die Sozialämter mit den Arbeitsagenturen zusammengelegt sowie Zeitarbeit und Minijobs liberalisiert wurden. Durch eine Senkung der Lohnnebenkosten sollten die Rahmenbedingungen für mehr Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft verbessert und so das Wachstum und die Beschäftigung gefördert werden, wofür unter anderem auch Reformen im Gesundheitswesen und bei der Rentenversicherung beitragen sollten. Mit der Agenda 2010 wurde eine Reihe von Reformen realisiert, die zuvor Gegenstand zahlreichen Beiträge von Autoren im Wirtschaftsdienst waren.

Die großen, kontroversen wirtschaftspolitischen Fragen in der Zeit von 1983 bis 2007 spiegeln sich in den Themen der Rubrik „Zeitgespräch“ wider. Jeweils zwanzig und mehr Zeitgespräche befassten sich mit der Reform, Vertiefung und Erweiterung der Europäischen Integration einschließlich der Einführung des Euro sowie mit dem Themenkomplex Deutsche Einheit und deren wirtschaftliche Folgen insbesondere für Ostdeutschland, jeweils zehn oder mehr Zeitgespräche mit Fragen der Regulierung/Deregulierung einschließlich von Bahn und Post, der Steuerpolitik, des Gesundheitswesens, des Föderalismus/Länderfinanzausgleichs sowie der Reform der Gesetzlichen Rentenversicherung.

Das Gesundheitswesen war vor allem deshalb Gegenstand wiederholter Zeitgespräche, weil wegen eines Mangels an hinreichenden Wettbewerbsparametern eine effiziente Selbststeuerung des Systems nicht erreicht werden konnte. Reformen erfolgten vor allem dann, wenn die steigenden Gesundheitskosten nicht mehr tragfähig waren und die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft beeinträchtigt wurde. Sie setzten daher zumeist auf der Kosten- und Finanzierungsseite an. Der Föderalismus/Länderfinanzausgleich wiederum war Thema zahlreicher Zeitgespräche, weil die Bundesländer wegen fehlender Steuerautonomie sich nur über die Ausgaben profilieren können und die unterschiedlichen Interessenlagen von Geber- und Nehmerländern hart aufeinanderprallen.

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