Ein Service der

Gemeinsames Handeln ist notwendig

50. Jahrgang, 1970, Heft 11

Ein Zeitgesprächsbeitrag des Bundesinnenministers

von Hans-Dietrich Genscher

Bereits in der Regierungserklärung vom 28. Oktober 1969 hat die Bundesregierung dem Umweltschutz die ihm gebührende Vorrangstellung eingeräumt. Am 17. September dieses Jahres beschloß sie ein Sofortprogramm, das nach gründlichen Vorarbeiten von dem im Juni eingesetzten Kabinettsausschuß für Umweltfragen vorgelegt worden war. Hierin werden Maßnahmen angekündigt, die zur Lösung einiger besonders dringlicher Probleme getroffen werden sollen. Das Sofortprogramm wird bis zum März 1971 durch ein Grundsatzprogramm zum Umweltschutz ergänzt werden. Dieses soll nicht nur die allgemeinrechtliche und die verfassungsrechtliche Seite des Umweltschutzes behandeln, sondern auch die umfassende, langfristige Planung der Bundesregierung wiedergeben.

Hans-Dietrich Genscher (1927-2016), FDP-Politiker, von 1969 bis 1974 Bundesinnenminister sowie von 1974 bis 1992 Bundesaußenminister und Vizekanzler. Von 1974 bis 1985 war er Vorsitzender der FDP. Der Text für den Wirtschaftsdienst entstand 1970 zu Beginn der Umweltbewegung in Deutschland.

Foto: BArch, B 145 Bild-F052008-0005 / Wegmann, Ludwig / CC-BY-SA 3.0

Internationales Problem

Während der letzten Vollversammlung der Vereinten Nationen im Oktober dieses Jahres hat der dänische Ministerpräsident vorgeschlagen, eine internationale Umweltschutzbehörde zu schaffen. Er hat damit nur ausgesprochen, was allen, die sich mit den naturwidrigen und für die Menschheit gefährlichen Veränderungen unserer Umwelt beschäftigen, längst klar geworden ist: Wirksame Maßnahmen zum Umweltschutz müssen von a l l e n Staaten der Erde gemeinsam erdacht, geplant, beschlossen, finanziert und durchgeführt werden.

Diese Aufgabe hat verschiedene Aspekte. An erster Stelle zu nennen ist die Verunreinigung der Luft. Jeder Schaden, der hier verursacht wird, ist ein Schaden für die gesamte Menschheit. Wir haben das bereits erfahren, als nach den ersten Kernwaffenversuchen die Radioaktivität der Luft der gesamten Erde und nicht nur in den Versuchsgebieten bedrohlich zunahm. Jahrzehnte vorher waren nach dem Ausbruch des Krakatau weitgestreckte Staubwolkenfelder, die die Sonneneinstrahlung beeinträchtigten, um den Erdball gezogen. Ebenso oder noch viel stärker wäre die Erde bedroht, wenn — wie amerikanische Wissenschaftler befürchten — die geplanten Stratosphärenflugzeuge durch die ungeheuren Mengen ihrer Abgase in großen Höhen dauerhafte Staubgürtel entstehen ließen und unser Klima von Grund auf veränderten.

Die Verschmutzung der Ozeane ist eine gemeinsame Sorge aller und nicht nur ihrer Anliegerstaaten. Denn sind erst, um nur ein Beispiel zu nennen, die Fischgründe der Weltmeere vernichtet, so müssen Binnenländer ebenso darunter leiden wie die am Meer gelegenen Staaten. Nationalen Eigennutz In Sachen Umweltschutz dürfte es schon deswegen nicht geben, weil er — wie eine Brunnenvergiftung — wehrlose Bewohner aller Nachbarstaaten gefährdet. Und dies auch dann, wenn diese Staaten ihre eigenen Umweltschäden unter materiellen Opfern verhindert oder beseitigt haben. Sollten zum Beispiel die Niederlande darauf beharren, die schmutzigen, ungeklärten Abwässer aus ihren Nordprovinzen in den Dollart zu leiten, so wären alle Bemühungen der deutschen Anlieger, das Seegebiet der Emsmündung rein zu halten, vergeblich gewesen.

Nur weltweit lösbar

Dennoch scheint „internationaler Umweltschutz“ nur ein Traum zu sein. Sowenig zu verwirklichen wie Weltfrieden und Weltreligion. Nur ein Phantast könnte nämlich glauben, es müsse doch — angesichts der gemeinsamen Gefahr — leicht sein, die Völker der Erde gegen eine Bedrohung durch Umweltschädigung zusammenzuschließen. Vor diesem Ziel türmen sich je doch Berge an bürokratischer Engstirnigkeit, nationalen Egoismen und technischen Schwierigkeiten auf. Vor allem weil solch ein Zusammenschluß nur dann einen Sinn hat, wenn er mit weitgehendem Verzicht auf nationale Souveränität verbunden ist. Deshalb wird sich ein internationaler Umweltschutz nur in Stufen verwirklichen lassen:

  • über zwischenstaatlichen Informations- und Erfahrungsaustausch,
  • gemeinsame Forschung und Erfahrungsaustausch,
  • Angleichung der Rechtsvorschriften,
  • weltweite Planung und vertraglich gesicherte Zusammenarbeit,
  • bis hin zur Errichtung einer mit allen erforderlichen Vollmachten ausgestatteten Internationalen Umweltschutzbehörde.

Wann dieses Ziel erreicht sein wird, läßt sich gegenwärtig nicht sagen. Daß es aber früher oder später erreicht werden muß, weiß jeder, der die Wiederherstellung und Erhaltung einer gesunden Umwelt als gemeinsame Aufgabe aller Völker und ihrer Regierungen erkannt hat. Hier die Hoffnung aufgeben, hieße letztlich, der lebensbedrohenden Veränderung unserer Umwelt freien Lauf zu lassen. Und wenn es heute noch wenig realistisch erscheinen mag, daß sich die ganze Menschheit in naher oder ferner Zukunft zur Rettung ihrer Umwelt zusammenschließen könnte, dann sei an das Wort Ben Gurions erinnert, daß an Wunder nur glaubt, wer Realist ist. Vergessen wir auch nicht, daß solch ein internationaler Zusammenschluß nicht nur die uns bedrohenden schweren Gefahren abzuwenden vermag. Er würde auch erstmals in der Geschichte der Menschheit verwirklichen, wovon die Besten unter uns zu allen Zeiten vergeblich geträumt haben: die Einigung der Völker.

Hemmnisse durch Föderalismus

Wenn sinnvoll und zweckmäßig betriebener Umweltschutz letztlich die gesamte Erde umfassen muß und eine gemeinsame Abwehrorganisation aller Staaten notwendig macht, wäre es höchst widersprüchlich und ein unverzeihlicher Fehler, innerhalb eines einzelnen Staates um gekehrt zu verfahren und den Umweltschutz gebietsweise aufzuteilen. Planung, Gesetzgebung, Forschung und Entwicklung, Datensammlung und -auswertung müssen weit- und großräumig angelegt sein und möglichst einheitlich geleitet w erden. Bei aller Anerkennung des föderalistischen Prinzips, das in unserer Verfassung unveränderlich festgelegt ist, gibt es doch bestimmte Aufgaben, die sich ihm entziehen. Ebenso wie bei der militärischen Landesverteidigung, die eine Angelegenheit des Bundes sein muß, dürfte es auch beim Umweltschutz, der zusammengefaßten Abwehr aller aus der veränderten Umwelt drohenden Gefahren, keine andere Regelung geben.

Die Bundesregierung ist deshalb bemüht, dem Bund im Bereich des Umweltschutzes jene Zuständigkeiten zu verschaffen, die er für Gesetzgebung, Organisation und Verwaltung benötigt. Diesem Zweck soll eine Grundgesetzänderung dienen, die den gesetzgebenden Körperschaften im Mai dieses Jahres von der Bundesregierung vorgeschlagen worden ist. Sie sieht vor, die dem Bund bisher fehlende volle Gesetzgebungszuständigkeit für Wasserhaushalt, Luftreinhaltung, Lärmbekämpfung, Naturschutz und Landschaftspflege zu überlassen.

Der Bundesrat hat sich diesem Bestreben der Bundesregierung bisher versagt. Er will einer Grundgesetzänderung nur insoweit zustimmen, als es sich um die Herstellung der Bundeskompetenz für Luftreinhaltung und Lärmbekämpfung handelt. Die Bundesregierung hofft jedoch, daß nicht nur der Bundestag, sondern — bei endgültiger Beschlußfassung über die Grundgesetzänderung — auch der Bundesrat die Ausdehnung der Bundeskompetenz auf Wasserhaushalt, Naturschutz und Landschaftspflege gutheißen wird. Wenn wir auf diese Weise in unserem eigenen Bereich einer Zersplitterung der Zuständigkeiten entgegenwirken, dürfen wir um so berechtigter und folgerichtiger für eine internationale Zusammenarbeit und Lenkung des Umweltschutzes eintreten.

Ressortzuständigkeiten

Die Notwendigkeit, den Umweltschutz innerhalb eines Staates einheitlich zu betreiben, gilt im Bundesstaat nicht nur für das Verhältnis zwischen Bund und Ländern, sondern auch für die Verteilung und Handhabung der Ressortzuständigkeiten auf Bundesebene. Heute befassen sich sechs Ministerien der Bundesregierung mit Fragen des Umweltschutzes, wobei das Bundesministerium des Innern mit seiner Abteilung „Umweltschutz“ federführend Ist.

Nun ist eine solche weitverzweigte Ressortzuständigkeit durchaus kein Nachteil, wie einige von vornherein annehmen. Es ist im Gegenteil sinnvoll, daß beispielsweise die medizinische Seite des Umweltschutzes von dem für Gesundheitsfragen zuständigen Ressort und die gesetzlichen Regelungen für die Beförderung wassergefährdender Stoffe auf unseren Straßen vom Verkehrsministerium bearbeitet werden. Sichergestellt muß nur bleiben, daß nicht aneinander vorbei oder gar gegeneinander gearbeitet wird, da es hier auf Einheitlichkeit, Gemeinsamkeit und klare Lenkungsbefugnis ankommt. Dieses Erfordernis wird vor allem durch die Einrichtung des Kabinettsausschusses für Umweltfragen erfüllt. Dem gehören unter Vorsitz des Bundeskanzlers bis auf zwei alle Bundesressorts an, und seine Geschäfte führt der Bundesminister des Innern.

Gefahrenbereiche

Ansatzpunkte für einen Umweltschutz sind die Verschmutzung oder gar Vergiftung der Luft und des Wassers, die Schädigung des Bodens, die Zunahme des Abfalls sowie die gesundheitsschädigende Lärmbelästigung. Jede dieser Gefahren wächst mit zunehmender Bevölkerungszahl. Häufig überschneiden sich die Erscheinungen, wenn eine Schadensquelle mehrfache Wirkungen hat. Dazu drei Beispiele:

□ Giftstoffe, die in Schädlingsbekämpfungsmitteln enthalten sind, können über den Boden in die Gewässer und — beispielsweise durch Zerstäubung - in die Luft gelangen.

□ Der gefährliche Bleigehalt im Treibstoff verschmutzt nicht nur die Luft, sondern schädigt auch die Pflanzenwelt an den großen Verkehrswegen.

□ Die Abfallbeseitigung stellt allein schon ein Problem dar. Durch „wilde Müllkippen“ kann auch der Boden verseucht werden.

Wahrnehmung und Wahrnehmbarkeit dieser Gefahren sind — das muß bei einer Aufklärungsarbeit über Umweltschutz beachtet werden — recht unterschiedlich. Am stärksten und unmittelbarsten empfindet man den Lärm. Er wird aber, wie eine Umfrage ergab, von einem Großteil der Menschen — zu Unrecht! — offenbar nicht als Umweltgefahr gesehen. Der Kampf gegen die immer größer werdenden Abfallmengen muß in jedem einzelnen Haushalt beginnen. Außerdem sind die Abfallhalden in der uns umgebenden Landschaft nicht zu übersehen. Deutlich und mit besonderem Abscheu wird auch die Verschmutzung der Gewässer wahrgenommen. Dagegen läßt sich der Gehalt der Luft an Schmutz- und Giftstoffen in der Regel ebensowenig erkennen wie der von Schadstoffen in Pflanzen, Tieren und in der Erde.

Schadensbekämpfung. . .

Die Bundesregierung befolgt bei ihren gesetzgeberischen und sonstigen Abwehrmaßnahmen auf dem Gebiet des Umweltschutzes den Grundsatz, daß der Verursacher eines Umweltschadens zur Beseitigung der Schadensquelle verpflichtet ist. Von dieser Regel gingen bereits die gesetzlichen — meist gewerberechtlichen — Vorschriften aus, die seit den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts erlassen wurden, um beispielsweise die Nachbarschaft eines Gewerbebetriebes vor unzumutbaren Immissionen wie Lärm, Staub oder Gestank zu schützen. Der Grundsatz „Schädiger muß Schädigung verhindern“ gilt ebenfalls im Bereich des Wasserrechts. Daß er gerecht und tauglich ist, wird niemand bestreiten wollen. Doch er ist nicht der Weisheit letzter Schluß.

Freiwillige oder aufgrund einer gesetzlichen Vorschrift vorgenommene Aufwendungen eines Unternehmens der gewerblichen Wirtschaft oder der Verkehrswirtschaft zur Vermeidung von Umweltschädigungen erhöhen die Betriebskosten und werden in der Regel auf den Verbraucher über die Preise abgewälzt. Das kann vor allem dann zu einer erheblichen Verteuerung der Ware oder Leistung führen, wenn die erforderlichen Schutzeinrichtungen wie Abwässerkanalisation, Kläranlagen, betriebliche Abgasreinigung oder -sperre, Entwicklung unschädlicher technischer Verfahren usw. einen hohen Teil der Kosten ausmachen. Diese wirtschaftliche Seite des Umweltschutzes ist einer der Gründe, daß die Bundesregierung, bevor sie einschlägige Maßnahmen ergreift, stets mit den beteiligten Wirtschaftsverbänden Kontakt aufnimmt.

. . . häufig bei den Ursachen

Der Grundsatz, daß der Verursacher eines Umweltschadens verpflichtet ist, ihn zu verhindern oder zu beseitigen, ist aber in vielen Fällen wenig sinnvoll. So beispielsweise gegenüber dem Halter eines Kraftfahrzeuges, dessen Abgase die Luft vergiften, dem Besitzer einer luftverschmutzenden Ölheizung oder den Haushalten, bei denen immer größere Mengen unvernichtbarer Abfälle anfallen. Hier ist auch beabsichtigt und zum Teil bereits verwirklicht, das Übel an der Wurzel zu beseitigen. So will die Bundesregierung auf die Verpackungsmittelindustrie dahin einwirken, daß sie leicht vernichtbare Produkte herstellt. Sie wird auch gesetzliche Vorschriften erlassen, nach denen der Bleizusatz in Treibstoffen innerhalb angemessener Fristen auf ein zulässiges Höchstmaß zu beschränken ist.

Aufklärung der Bevölkerung

Im Sofortprogramm der Bundesregierung für den Umweltschutz steht an letzter, aber nicht unwichtigster Stelle die in diesem Bereich zu leistende „Öffentlichkeitsarbeit“. Diese Bezeichnung läßt nicht deutlich genug erkennen, worum es eigentlich geht. Nicht um das wohlwollende Verständnis der Öffentlichkeit soll geworben werden. Im Bereich des Umweltschutzes geht es um mehr. Denn es handelt sich nicht darum, daß gewisse Unbequemlichkeiten zu beseitigen sind und dafür einige Millionen Mark aufgebracht w erden müssen. Auf dem Spiel steht nicht weniger als die physische Existenz der kommenden, aber auch bereits die der gegenwärtigen Generationen. Wir sehen uns vor die Alternative gestellt, ob die Menschheit, wenn auch unter größten Opfern, die Voraussetzungen ihres Bestehens auf dieser Erde wiedergewinnen und sichern kann oder ob sie zu irgendeinem Zeitpunkt an der von ihr selbst heraufbeschworenen naturwidrigen Veränderung ihrer Umwelt zugrunde geht. Das ist eine Gefahr, die nicht nur die Regierungen, sondern uns alle angeht. Sie verlangt von der Öffentlichkeit zunächst die volle Erkenntnis der zugespitzten Lage und dann die vorbehaltlose Bereitschaft, an der Abwehr der gemeinsamen Lebensgefahr mitzuwirken, auch wenn sich Opfer und Einschränkungen nicht vermeiden lassen. Regierung und Parlament werden ihren Beitrag leisten, um die Gefahren abzuwenden. Er wäre jedoch ohne die Mitwirkung aller Staatsbürger vergeblich. Um sie zu gewinnen, reicht „Öffentlichkeitsarbeit“ im herkömmlichen Sinne nicht aus. Selbst „Aufklärung“ genügt nicht. Man müßte von „Aufrüttelung“ der Bevölkerung sprechen, wenn man erkannt hat, worum es geht.

Problem der Zukunft

Ich frage mich bisweilen, ob wir als Angehörige der älteren Generation, die wir unsere heutige Lage, wenn nicht verschuldet, so aber doch verursacht haben, dazu berufen und fähig sind, sie von Grund auf zu ändern. Diese Frage stellt sich um so mehr, als wir die eigentlichen und schlimmsten Folgen der unheilvollen Veränderung unserer Umwelt nicht mehr erleben werden. So gesehen, ist Umweltschutz vor allem eine schwere und große Aufgabe für die Zukunft. Wir müssen jeden für diese Aufgabe hinzuziehen. Sie wäre jedoch um so leichter zu bewältigen, wenn es gelingen würde, die junge Generation für sie zu gewinnen und zu begeistern. Was hier geschehen muß, wird letztlich nicht in Amtsstuben geschaffen, in Laboratorien entdeckt und auf Tagungen und in Gutachten erdacht. Tatsächlich erfordert diese Aufgabe ein neues Bewußtsein, eine neue Gesinnung, darauf gerichtet, unsere alte Erde wiederzugewinnen.

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