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Finden Sie, daß die deutsche Wirtschaftspolitik richtig ist?

31. Jahrgang, 1951, Heft 2

Ein Gutachten und seine Kritiker: Schlußwort

Von Prof. Dr. Wilhelm Röpke

Wir sind erfreut, daß Herr Prof. Röpke unserer Bitte um eine Stellungnahme zu den im November-Heft veröffentlichten Kritiken über das von der Bundesregierung erbetene Gutachten nachgekommen ist. Nach dem Wunsch des Autors soll es eine abschließende Darstellung sein. Wir begrüßen dieses Schlußwort um so mehr, als damit der Grundsatz unseres Zeitgespräches, ein Diskussionsforum zu sein, ideal erfüllt wird. Wir dürfen aber einen mittelbar der Redaktion gemachten Vorwurf klarstellen. Bei den Kritiken des November-Gespräches handelt es sich nicht um eine organisierte Kollektivkritik. Die Gesprächspartner wurden mit Vorbedacht aus verschiedenen Weltanschauungskreisen ausgesucht, und es sind keine Vertreter einer „left of center". Wir dürfen vielleicht die Anonymität des Gesprächs soweit lüften, als wir bekanntgeben, daß einer der Kritiker durchaus als bewußter Vertreter sozialer Marktordnung anzusprechen ist. A propos, Anonymität! Wenn wir in sachlicher Hinsicht unsere Diskussionsfreunde vorbehaltlos der scharfen Klinge des streitbaren Genfers preisgeben, so möchten wir in formaler Hinsicht sie in einem Punkt decken: Jeder der Gesprächsteilnehmer würde  ‒  davon sind wir überzeugt  ‒  die in den Kritiken enthaltenen Angriffe auch unter Namensnennung vertreten. Es ist das Prinzip unserer Gespräche, daß die Glossen anonym veröffentlicht werden, nicht um einen Angreifer zu schützen, sondern um eine freie Äußerung sicherzustellen, die nicht auf Parteigebundenheit, wirtschaftliche oder staatliche Stellung Rücksicht zu nehmen braucht. Vielleicht kann man in der Schweiz eine solche Vorsicht nicht schätzen, aber sie ist in unserem demokratischen Musterländle durchaus am Platze. Die freie Meinungsäußerung scheint sich noch nicht ganz wieder erholt zu haben, und es ist hier doch Sitte, vieles ungesagt zu lassen, um nicht als Verräter, Renegat oder Pazifist angeprangert zu werden. Immerhin haben unsere Zeitgespräche eine seltene Lebendigkeit behalten, obwohl daran Minister, Professoren, Gewerkschaftler und exponierte Persönlichkeiten aus Westdeutschland, Ostdeutschland und der ganzen Welt teilnehmen. In diesem Sinne bitten wir, die Anonymität zu entschuldigen.

Die Redaktion.

Wilhelm Röpke (1899 – 1966), war Ökonom und Sozialphilosoph. Mit 24 Jahren wurde er als jüngster deutscher Professor Deutschlands auf eine Professur an die Universität Jena berufen. Seine weitere Lehrtätigkeit führte ihn nach Graz, Marburg und – nach Zwangsbeurlaubung 1933 aufgrund kritischer Äußerungen über den Nationalsozialismus – Istanbul und Genf. Röpke steht für eine Gesellschaft und Politik, für die die Wahrung der Menschenrechte von höchster Bedeutung ist. Das sogenannte „Individualprinzip“ als wichtiger und elementarer Kern der Marktwirtschaft muss aus seiner Sicht mit einem durchdachten Sozial- und Humanitätsprinzip in Balance gehalten werden. Er gilt als einer der geistigen Väter der Sozialen Marktwirtschaft.

Mit zunehmendem Alter wurde Röpke konservativer, so lehnte er Ende der fünfziger Jahre die Einführung des Stimmrechts für die Schweizer Frauen ab. Auch kritisierte er die schwarze Bürgerrechtsbewegung in den USA und verteidigte nachdrücklich die Apartheid in Südafrika noch in den sechziger Jahren.

Quelle: Wikipedia, Neue Zürcher Zeitung von 2.12.2015

Foto: Mises Institute, CC BY-SA 3.0

In der Novemberausgabe 1950 hat die Redaktion dieser Zeitschrift unter dem Titel „Finden Sie, daß die deutsche Wirtschaftspolitik richtig ist?" einige Stimmen gesammelt, die sich mehr oder weniger kritisch mit dem Gutachten befassen, das im Sommer vorigen Jahres von mir im Aufträge der deutschen Bundesregierung verfaßt und von dieser unter dem Titel „Ist die deutsche Wirtschaftspolitik richtig?" (Stuttgart, Kohlhammer) mit einem zustimmenden Vorwort des Bundeskanzlers Dr. Adenauer veröffentlicht worden ist. Diese organisierte Kollektivkritik ist mir erst jetzt im Wortlaut zugänglich geworden. Wenn ich daher nur mit Verspätung zu ihr Stellung nehmen kann, so will ich nicht verschweigen, daß ich gezögert habe, ob ich überhaupt das Wort zu einer, wenn auch nur kurzen Erwiderung ergreifen und damit von einer Regel abweichen solle, die ich mir längst auferlegt habe, wo immer es sich um Angriffe handelt, deren Ton eher die Leidenschaft als die nüchterne Vernunft verrät. Wenn ich in der Tat diese „Leserstimmen" studiere, so ist ihren Verfassern mit wenigen Ausnahmen anzumerken, mit welcher Befriedigung und Selbstsicherheit sie von der Tarnkappe der Anonymität Gebrauch gemacht haben, um den weit in Genf sitzenden Professor schulmeisterlich zu zensieren.

„Die Supp hätt können gewürzter sein.
Der Braten brauner, firner der Wein.“

Ausgangspunkte der Kritiker

Der eine hätte sich statt meiner einen farbloseren Gelehrten gewünscht und ist aus einem mir nicht klargewordenen Grunde unzufrieden damit, daß ich meine Gedanken numeriert und an die Politik der Bundesregierung nicht allein den Maßstab der „gegebenen Verhältnisse“, sondern auch denjenigen meiner in einer langen Gelehrtenlaufbahn erworbenen wirtschaftspolitischen und sozialphilosophischen Überzeugungen ‒ die man, wenn man sie nicht billigt, "Doktrin" nennt ‒ anlege. Ein anderer wirft dem Verfasser der "Gesellschaftskrisis der Gegenwart" und der "Civitas humana" eine "Mechanik materialistischer Anschauungen" vor und entdeckt, daß er sich darin in nichts von dem "historischen Materialismus des von ihm so leidenschaftlich bekämpften Kollektivismus" unterscheide, ‒ ein Vorwurf, der sich von dem sonst üblichen des "Romantikers" interessant abhebt. Derselbe Kritiker bemängelt sowohl, daß ich der Marktwirtschaft die "unbedingte Priorität" einräume, wie auch, daß ich ihre Grenzen erkenne und von der Notwendigkeit von Staatseingriffen spreche, die sehr gefährlich seien. Seine Kritik läuft darauf hinaus, daß dieser Doktrinär ‒ weil er die Marktwirtschaft nicht in eine "Planung" einordne ‒ zu einer grundsatzlosen Wirtschaftspolitik komme. Ein an derer empfindet es in der Hansestadt Hamburg als eine "Übertreibung", festzustellen, daß ein Übermaß an Regulierungen des Wirtschaftsprozesses dazu führt, daß wir uns schließlich unter das Kommando des kollektivistischen Staates beugen müssen, so daß also nur ein Mehr an Marktwirtschaft ‒ z. B. ein Weniger an Devisenzwangswirtschaft, wie ich erläuternd hinzufügen darf ‒ langfristig die Rettung sein kann. Derselbe Kritiker hält sich für berufen, meine Kennzeichnung der Schwächen der "Vollbeschäftigungspolitik" mit einer erbarmungslosen Zensur zu versehen. Ich nehme zu seiner Entlastung an, daß er sie nichtverstanden hat.

Doch genug hiervon. Wer mein Gutachten unsympathisch findet, um dessen Gunst will ich nicht weiter werben. Auch das Bedauern darüber, daß die Bundesregierung statt meiner nicht einen anderen mit dem Gutachten beauftragt habe, muß ich als eine Kritik bezeichnen, die nicht an mich, sondern an meine Auftraggeber zu richten ist. Stattdessen will ich nunmehr versuchen, aus dem Gemengsel an unklaren Bekrittelungen einige kritische Gedanken herauszugreifen, die ernster Beachtung wert sind.

Es wäre eine sehr interessante Aufgabe, einigermaßen den politischen und ideologischen Ort zu bestimmen, aus dem diese kritischen "Leserstimmen" stammen. Man geht wohl nicht fehl, wenn man sie allesamt jenem Bereich zuweist, den man in den Vereinigten Staaten als "left of center" bezeichnet, womit zugleich gesagt ist, daß sie unter keinen Umständen als irgendwie repräsentativ gelten können. Andererseits ist nach der extremen Linken eine deutliche Grenzlinie erkennbar, da keiner der Einsender offen für ein der Marktwirtschaft entgegengesetztes kollektivistisches System eintritt, das die Ordnungs- und Antriebskräfte der Preise durch behördlich Planung und Anordnung ersetzt. Freilich ist das Umstandswort "offen" zu betonen, denn an mehr als einer Stelle werden Anschauungen vertreten, deren ‒ gewollte oder ungewollte ‒ Konsequenz in der Tat ein solches System wäre, das sich von der im Sommer 1948 glücklich beendeten Zentralverwaltungswirtschaft (um Euckens Ausdruck zu gebrauchen) kaum unterscheiden würde.

Verzicht auf Verbrauch

So entwickelt der erste Kritiker folgenden charakteristischen Gedanken; Wiederaufbau bedeute unter allen Umständen "Verzicht auf Verbrauch". Den "Grad des Verzichts" könne man jedoch nicht "der wirtschaftlichen Einsicht des einzelnen" ‒ man erinnert sich dabei an den berühmten "Maßstab seiner beschränkten Einsicht", der den Untertanen nach der Meinung des preußischen Ministers von Rochow nicht gezieme ‒ überlassen, noch könne man sich, wie sich der Kritiker ebenso elegant wie nationalökonomisch einsichtig ausdrückt, "durch die ausschließliche Aufnahme von Fremdgeldern um den gegenwärtigen Verzicht herumdrücken". Leider überläßt er dem Leser die unausweichliche Schlußfolgerung, daß also der Kapitalmangel im wesentlichen durch "Zwangssparen" bekämpft werden müsse. Da aber das fiskalische Zwangssparen (durch Investition von Steueraufkommen) bei einem ohnehin immer unlösbarer werdenden Problem des Steuerüberdrucks und des Budgetdefizits in nennenswertem Umfange nicht mehr in Betracht kommt, bleibt nur das monetäre Zwangssparen, d.h. eine Politik des konstanten Inflationsdrucks. Es ist aber gewiß kein Unrecht zu unterstellen, daß der Kritiker der letzte wäre, diese Inflation als eine "offene" zuzulassen, und der erste, angesichts der dann unvermeidlichen Auftriebstendenz der Preise und angesichts der bei fixem Markkurs ebenso unausbleiblichen Zahlungsbilanzspannung nach "Lenkung", "Planung", "Kontrollen" und "Steuerung" des Außenhandels zu rufen. Damit wären wir wieder bei der "zurückgestauten Inflation" unseligen Angedenkens, d. h. bei einem umfassenden kollektivistischen System angelangt. Genau das hatte ich in meinem so geschmähten Gutachten auseinandergesetzt.

Die Krise der Zahlungsbilanz

Damit aber nicht genug. Dieser selbe Kritiker, der, wenn er sich über den Sinn seiner Worte klar ist, eine Politik des konstanten Inflationsdrucks mit ihrer unvermeidlichen Wirkung auf das innere und äußere wirtschaftliche Gleichgewicht empfiehlt, macht im selben Atem die "enge Befolgung der Doktrin" (d.h. der meinigen oder doch von mir im wesentlichen gebilligten marktwirtschaftlichen und zugleich die Politik des Inflationsdrucks verwerfenden Doktrin) für die deutsche Zahlungsbilanzkrise ‒ die bedenkliche Situation "auf außenwirtschaftlichem Sektor", wie sich der Einsender ausdrückt ‒ verantwortlich. Er möge sich darüber belehren lassen, daß es schwer sein dürfte, irgendeinen nicht völlig exzentrischen Nationalökonomen in der weiten Welt heute zu finden, der nicht zugäbe, daß eine Zahlungsbilanzstörung ‒ ein anhaltender Überschuß der Nachfrage über das Angebot auf dem Devisenmarkte ‒ nicht anders verstanden werden kann denn als Ausdruck und Folge der Tatsache, daß ein wie auch immer entstandener innerer Inflationsdruck den Gleichgewichtspunkt auf dem Devisenmarkte u n t e r den Fixkurs der Währung gedrückt hat, so daß das Devisenangebot zurückgeht und die Devisennachfrage steigt. Mögen auch die Meinungen darüber, was zur Behebung dieser Kalamität geschehen soll, auseinandergehen, indem die einen eine Herabsetzung des Kurses bis zum neuen Gleichgewichtspunkt, die anderen eine Beseitigung des Inflationsdruckes unter Beibehaltung des Fixkurses und noch andere Devisenzwangswirtschaft (Beibehaltung des Fixkurses ohne Beseitigung des Inflationsdruckes, aber unter "Bewirtschaftung" und Rationierung der Devisen) befürworten, ‒ in der Erklärung der Lage und ihrer Ursache sind die meisten einig. Dann aber kann es auch keine Meinungsverschiedenheit darüber geben, daß die deutsche Zahlungsbilanzkrise einen relativen Inflationsdruck, d. h. eine Entwicklung widerspiegelt, bei dem entweder der Markkurs zu hoch oder das innere deutsche Kaufkraftvolumen zu groß erscheint. Das hat mit der "Doktrin" genau das zu tun, daß ihre Vertreter ‒ so auch ich selber in meinem Gutachten ‒ sich dem Drängen der "monetären Zwangssparer" und "Vollbeschäftigter" nicht zuletzt unter Warnung vor den Folgen der Kreditexpansion für das innere und äußere wirtschaftliche Gleichgewicht nach Kräften, wenn auch nicht mit vollem Erfolg widersetzt haben 1).

Die Idee des „Dritten Weges“

Die Meinung dieses Kritikers ist, wie gesagt, die weiteste Konzession an den Kollektivismus, die ich in dem bunten Strauß der hier besprochenen Meinungen habe finden können, und selbst diese ist nur schamhaft angedeutet worden. Im übrigen herrscht das Bestreben vor, der Entscheidung zwischen dem Ordnungsprinzip des Marktes und dem anderen der Plan- und Befehlswirtschaft auszuweichen und die Hoffnungen auf eine Wirtschaftsverfassung zu setzen, die jenseits dieser von mir (wie von Eucken und m einen übrigen Freunden) als "unerbittlich" bezeichneten Alternative liegt. Daß hier in der Tat ein theoretisches Problem und eine praktische Aufgabe liegen, braucht demjenigen, der die Idee des " D r i t t e n W e g e s " in Umlauf gebracht hat, wahrlich nicht gesagt zu werden. Aber das Problem kann nicht durch das hoffnungslose Bemühen, neben diesen beiden Ordnungsprinzipien in einer arbeitsteiligen Gesellschaft ein drittes zu finden, sondern nur dadurch -gelöst werden, daß man e r s t e n s ermittelt, in welcher Weise und in welchem Umfange die Herrschaft des Marktprinzips einen Bereich des nichtmarktwirtschaftlichen Prinzips zuläßt oder erfordert, daß man z w e i t e n s geistig-moralisch-soziologische Postulate formuliert, die jenseits dieses ganzen wirtschaftlichen Ordnungsproblems liegen, daß man d r i t t e n s im einzelnen den rechtlich-institutionell-politisch-monetären Rahmen bestimmt, dessen Notwendigkeit gerade wir Vertreter der marktwirtschaftlichen Ordnung so nachdrücklich betonen, und daß man v i e r t e n s Möglichkeiten, Formen und Erwünschtheit von Interventionen erwägt, die in den Marktprozeß eingreifen, ohne ihn zu lähmen oder zu deformieren. Das ist das Skelett eines umfassenden Reformprogramms, das sich allmählich in den letzten 15 Jahren als die gemeinsame Denkarbeit eines internationalen Kreises von Nationalökonom en und Soziologen herausgeschält hat, denen die vom fortschreitenden Kollektivismus tödlich bedrohte Freiheit ebenso am Herzen liegt wie eine gerechte, ergiebige und dem Menschen gemäße Form der Wirtschaft und Gesellschaft. Zu diesem Programm habe ich selber durch meine Publikationen beigetragen, und da der eine oder der andere m einer Kritiker sie zu kennen erklärt, so bleibt mir nichts übrig, als sie zu bitten, ihre Erinnerung aufzufrischen. Das Wesentliche daraus, auf knappe Thesen zusammengedrängt, findet sich in meinem Gutachten. Solange Kritiker von dieser Gesamtkonzeption nicht willig und mit der Sorgfalt Kenntnis nehmen, die sie in ihrer inneren Verstrebung erfordert, ist eine Diskussion unfruchtbar. Schon die Erwartung, daß ich gesonnen sein könnte, mich darauf einzulassen, erscheint als eine Anmaßung. "Koordination von Gemeinwirtschaft, Teilplanungen und einer dynamischen Marktwirtschaft", sagt der zweite meiner Kritiker: "Ungefähr sagt das der Pfarrer auch. Nur mit ein bißchen ändern Worten." Und vielleicht nicht auch mit ein bißchen klareren Worten?2)

Voll- oder Hochbeschäftigung

Es ist nicht unangebracht, wenn ich noch mit wenigen Worten auf das von dem letztgenannten Einsender geprägte Wort "dynamische Marktwirtschaft" eingehe. Wenn meine Vermutung zutrifft, daß damit eine für ständige " V o l l b e s c h ä f t i g u n g " sorgende und von Kreditexpansion vorwärtsgetriebene Marktwirtschaft verstanden werden soll, so ist damit eine Note angeschlagen, die im fortissimo aus allen drei Kritiken zu vernehmen ist. Hier wäre denn eigentlich der Ort, da dieses mißverstandenste aller wirtschaftspolitischen Schlagwörter unserer Zeit gründlich durchleuchtet werden müßte. Daß das nicht geschehen kann, muß leider gerade demjenigen am ehesten verständlich sein, der diese Durchleuchtung am wenigsten braucht, weil er weiß, in welchem Mißverhältnis die Einfachheit des Schlagworts und die Grobheit der danach handelnden Politik zu den verwickelten Gedankengängen steht, die man geduldig auseinandersetzen müßte. Der heutige Zustand der Diskussion ist in der Tat am treffendsten dadurch gekennzeichnet, daß man in wissenschaftlichen Kreisen mehr und mehr den Gebrauch des Wortes "Vollbeschäftigung" vermeidet und von "Hochbeschäftigung" ("high level of employment") spricht. Kein Geringerer als Schumpeter hat in seinem eindrucksvollen Schwanengesang "The March into Socialism" (American Economic Review, Mai, 1950) seiner Genugtuung über diesen Besinnungsprozeß Ausdruck gegeben. Dieser selbe Schumpeter ‒ dessen "souveränen Geist" der erste meiner Kritiker damit also zu früh gelobt hat ‒ hat in dem erwähnten Aufsatz auf seine Art die bereits geläufige Einsicht dargelegt, daß eine Politik der "Vollbeschäftigung" heute mit einer solchen des konstanten Inflationsdrucks identisch ist.

Kampf gegen die Inflation?

Damit ist ein entscheidendes Wort ausgesprochen. In der ganzen Diskussion um die Marktwirtschaft kommt in der Tat der Gedanke viel zu kurz, daß das Endergebnis jener Politik der "Planwirtschaft", der "Vollbeschäftigung", des "billigen Geldes", des sozialistischen "Wohlfahrtsstaates", der "Vollbesteuerung", der "steigenden Staatsausgaben", des "Nationalbudgets" 3)  oder wie die Losungen auch lauten mögen ‒ eine s t ä n d i g  f o r t s c h r e i t e n d e   I n f l a t i o n ist, deren Gang nur von Zeit zu Zeit von falschen Alarm rufen "DefIation!" unterbrochen wird. Daß das die bittere Wahrheit ist, sollte nun nach einem vollen Jahrzehnt des ständigen und steigenden Inflationsdrucks im Durchschnitt aller Länder niemandem mehr entgehen können, und das chronische Problem der Weltinflation hat nur seit dem Ausbruch der Koreakrise deshalb eine so gefährliche, akute und allen Kuren trotzende Form angenommen, weil plötzlich die altgewohnte "m i l i t ä r i s c h e" Inflation auf die neue "s o z i a l e" Inflation (wenn diese bitter-ironische Wortführung erlaubt ist) getürmt worden ist. In der Diskussion um die Marktwirtschaft handelt es sich nicht nur um die Freiheit des Marktes, sondern zugleich um den Kampf gegen die chronische Inflation und die Aushöhlung der Kaufkraft des Geldes, die nicht zufällig, sondern aus einem inneren Zusammenhang mit der fortschreitenden Kollektivisierung des modernen Wirtschaftslebens einhergegangen ist. Man kann uns Verteidiger der Marktwirtschaft nicht verstehen, wenn man übersieht, daß unser entschiedenes Nein zum Kollektivismus ein ebenso entschiedenes Nein zum Inflationismus einschließt, und das eine Nein ist so entschieden wie das andere, weil die eine Gefahr so groß ist wie die andere. Das aber ist so, weil die eine Gefahr die andere umfaßt.

Indem wir unsere Kraft diesem ‒ aufreibenden, einsamen und undankbaren ‒ Kampf widmen, streiten wir nicht für „kapitalistische" Interessen. Wettbewerb oder Diskonterhöhung sind keineswegs Parolen, die dort begeisterten Widerhall finden, und es ist gerade der erste meiner hier genannten Kritiker, welcher Vertrustung und Monopolabreden preist. Unser Kampf wird vielmehr im Interesse der breiten Massen geführt, die nicht hoffen dürfen, zu den Nutznießern der mit fortschreitendem Kollektivismus einhergehenden Machtzusammenballung und Inflation zu gehören, sondern ihre Opfer sind. Nicht allzuviele wissen das, weil sie die verwickelten Zusammenhänge nicht erkennen und daher leicht den Reden derjenigen zum Opfer fallen, die sie kennen sollten, aber als Nutznießer des fortschreitenden Kollektivismus und Inflationismus sich erbittert gegen die Erkenntnis sträuben, ihre größte Erbitterung aber für jene aufsparen, die die Erkenntnis in einer auch den Massen verständlichen Form verbreiten.

Resignation oder Kampf?

Damit komme ich zu einem letzten ernsten Wort, das ich, da sich nun einmal die Gelegenheit bietet, sehr nachdrücklich aussprechen möchte. Wiederum ist es einer der Kritiker, der mir zu Hilfe kommt, indem er sagt: "Der internationale Ruf eines Gelehrten erhebt ihn noch nicht über der Parteien Haß und Gunst." Er hat kein wahreres Wort gesprochen. Wir befinden uns in der Tat inmitten einer Flutwelle politischer Leidenschaften, die alles hinwegzureißen droht, eingeschlossen die Grundlagen achtungsvoller Diskussion. Wer demgegenüber eigensinnig darauf beharrt, daß zwei mal zwei vier bleibt, wird zum Freiwild. Er sieht sich "heftig umstritten", weil er sich nicht in die ideologische Uniform der Zeit stecken lassen will. Daran hat sich auch nach dem Zusammenbruch der einen Spielart des Totalitarismus nichts geändert. Im Gegenteil, dieser Geist hat sich inzwischen der ganzen Welt mitgeteilt. Man kann sich damit begnügen, den Weg, den die Welt geht, klaren Blickes zu konstatieren und sie im übrigen ihrem Schicksal fatalistisch zu überlassen. Das war die Haltung, die Schumpeter gewählt hatte, und sie hat gewiß ihre Vorteile. Aber bisher haben die Menschen in zivilisierten Zeiten immer noch einen Rest ritterlicher Achtung für diejenigen gehabt, die diese Rolle des resignierten Betrachters als unbefriedigend empfunden und stattdessen gekämpft haben, ohne zuvor ängstlich nach den Siegeschancen zu fragen.

In diesen Zusammenhang gehören auch mein Gutachten und die an ihm geübte Kritik. In gewisser Hinsicht ähnelt m eine Lage derjenigen der fünf Nationalökonom en, die im Aufträge des Generalsekretariats der Vereinten Nationen das bekannte Gutachten über "Vollbeschäftigung" ("National and International Measures for Full Employment", United Nations, Lake Success, New York, Dezember 1949) erstattet haben. Auch das Generalsekretariat der Vereinten Nationen hat das getan, was m eine Kritiker der Bundesregierung zum Vorwurf machen: sie hat die Gutachter unter den Anhängern und nicht unter den Gegnern der von ihr begünstigten wirtschaftspolitischen Überzeugung ausgesucht, so daß die Grundrichtung der "lehrbuchmäßig" in 205 Thesen gegliederten Darlegung nach der Auswahl der ja bereits bekannten Gutachter keine Überraschungen bieten konnte. Auch dieses Gutachten hat wie das meinige einen heftigen Streit der Meinungen entfacht, wenn mir auch nichts zu Gesicht gekommen ist, was an Heftigkeit an einige gegen mich in jüngster Zeit gerichtete Diatriben heranreicht. Damit habe ich bereits die Unterschiede berührt. Zunächst: es ist nicht dasselbe, ob eine nationale Regierung wie die deutsche, die unter ihrer Verantwortung eine bestimmte Wirtschaftspolitik wirklich betreibt, sich von einem als grundsätzlicher Freund dieses Kurses bekannten Gelehrten eine von diesem Gesichtspunkt aus konzipierte kritische Analyse erbittet oder ob eine internationale Organisation, die den einzelnen Regierungen nur durch Meinungsklärung dienen kann, durch die Auswahl der Gutachter die in ihrem Beamtenstabe herrschende Ideologie zu einem thema probandum macht. Aber das ist noch nicht einmal das Wesentliche. Das Wesentliche ist, daß das Gutachten der Vereinten Nationen ja nur auf extreme Formeln bringt, was ohnehin die Meinung der Bien-Pensants zum mindesten in der heute den Westen führenden angelsächsischen Welt ist. Wer sich zum wissenschaftlichen Echo dieser Meinung macht, kann auf Ehre, Lob und Einfluß rechnen. Vielleicht fragen sich meine Kritiker einmal im stillen, welche Gründe wohl einen Gelehrten bewogen haben mögen, die andere, schmale Straße der Minderheit der selbständig Denkenden zu gehen, die sich durch keine Mittel einschüchtern und beirren lassen.

 

  1. Einer der drei Kritiker, dessen auffallendste Eigenschaft nicht die Bescheidenheit ist, meint, daß ich den Begriff des "Planens" weder in meinem Gutachten noch in meinen sonstigen Publikationen ‒ ich zitiere wieder wörtlich ‒ "genügend ausgereift angesprochen" habe. Auf diese ausgereifte Prosa ist zu antworten, daß sich eine heute allgemein angenommene, aber meinem Kritiker unbekannt gebliebene Klärung des Begriffs in meinem englischen Buche "Crises and Cycles" (London, 1936, S. 193 ff.) findet.
  2. Man will uns, die wir tiefstes Mißtrauen gegen die "Nationalbudgets" haben, immer wieder wie einem störrischen Pferd gut zureden, indem man uns sagt, daß es sich um bloße statistische Neugier des Staates handle. Einer meiner Kritiker meint, ich gebärde mich in meinem Mißtrauen wie ein Arzt, der sich gegen eine Röntgendurchleuchtung sträubt. Man soll mit solchen Bildern vorsichtig sein: Das Schweizer Volk hat vor kurzem eine Gesetzesvorlage, die die zwangsweise Durchleuchtung der Bevölkerung zum Ziel hatte, mit erdrückender Mehrheit deshalb abgelehnt, weil sich an die Durchleuchtung nach der Entscheidung des Arztes die zwangsweise "Einweisung" in ein Sanatorium schließen sollte. Was wir unsympathisch finden, ist nicht die Durchleuchtung, sondern der Zwang und die drohende "Einweisung"!
  3. Ich verweise im übrigen auf die ausführliche Darstellung die ich in meinem Aufsatz "Der deutsche Probefall" (Zeitschrift für das gesamte Kreditwesen, vom 1. Januar 1951) gegeben habe.

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