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Die meistgelesene wirtschaftspolitische Zeitschrift

Ein Schriftleiter über den Wirtschaftsdienst 1966/67

von Dr. Ernst Niemeier

Während meiner Lehrtätigkeit an der Hochschule Bremen Anfang des Jahrtausends las ich das Ergebnis einer Untersuchung, das besagte, dass der Wirtschaftsdienst die von Wirtschaftswissenschaftlern meist gelesene Fachzeitschrift sei. Da ich diese wirtschaftspolitische Zeitschrift von Juli 1966 bis November 1967 verantwortlich geleitet hatte, fand ich das sehr bemerkenswert. Denn gewiss hatte auch ich ein wenig zu diesem Erfolg beigetragen. Aber es überraschte mich nicht wirklich, weil ich davon überzeugt war, dass wir die akuten wirtschaftspolitischen Probleme jener Jahre von kompetenten Experten hatten behandeln lassen. Dazu zählte die „revolutionäre“ Entwicklung des „Prager Frühlings“.

 

Ernst Niemeier war Chefredakteur von Wirtschaftsdienst und Intereconomics im Juli 1966 und von Februar bis November 1967.

Der Direktor des HWWA-Instituts für Wirtschaftsforschung hatte den tschechoslowakischen Ökonomen Ota Sik nach Hamburg eingeladen, der in sehr offenen Gesprächen die Notwendigkeit darstellte, das sozialistische Planungssystem mit Hilfe marktwirtschaftlicher Elemente zu reformieren. Wir konnten es dann kaum fassen, dass Sik das Interview mit ihm zur Veröffentlichung freigab, in dem er seine Vorstellungen über den „dritten Weg“, ein System zwischen dem sozialistischen Planungs- und dem kapitalistischen System, ungeschminkt ausgesprochen hatte. Bedauerlicherweise wurde der „Prager Frühling“ 1968 von der Sowjetunion blutig niedergeschlagen, aber die Liberalisierungsidee wirkte über den polnischen Widerstand bis zu den Gorbatschowschen Reformen in der UdSSR fort. Erwähnenswert ist noch, dass Ota Sik einige seiner Mitarbeiter für einige Monate in Hamburger Unternehmen tätig werden ließ, um sie mit der marktwirtschaftlichen Wirklichkeit vertraut zu machen. Uns wurde jeweils einer der Mitarbeiter zugeteilt, den wir zu betreuen hatten.

 Von den besonders wichtigen Interviews mit besonders eindrucksvollen Gesprächspartnern will ich noch den amerikanischen Ökonomen W. Michael Blumenthal, den englischen Technologieminister Anthony Wedgwood Benn und Fritz Hellwig, Mitglied der Hohen Behörde der Montanunion, nennen. Blumenthal, amerikanischer Verhandlungsführer in der Kennedy-Runde und späterer amerikanischer Finanzminister, empfing uns in Genf zu einem Gespräch über die schwierige Phase der Zollsenkungsgespräche und insbesondere auch über den Protektionismus im Agrarbereich, der im Ergebnis dann von der Liberalisierung ausgenommen wurde. Blumenthal beeindruckte uns nicht nur durch seine fundierten Kenntnisse, sondern vor allem durch seine offenen und konstruktiven Antworten auf unsere kritischen Fragen. Die den Amerikanern vorgeworfene Subventionierung von Agrarprodukten, die aus EWG-Sicht Schutzmaßnahmen rechtfertigten, veranlassten mich 1967, nach einem amerikanischen Ökonomen zu fahnden, der in der Lage war, das Problem objektiv zu beurteilen. Ich fand ihn in dem Chicagoer Ökonomen D. Gale Johnson, der von der New York Times als „pioneer in agricultural economics“ bezeichnet wurde. Johnson erklärte sich tatsächlich bereit, das Problem für den Wirtschaftsdienst zu behandeln (veröffentlicht im November 1967).

 Bemerkenswert war auch das Interview, das wir mit dem englischen Technologieminister Anthony Wedgwood Benn führten. Kurz nach der Begrüßung in London ging er in die Knie und suchte auf dem Fußboden krabbelnd nach einer Steckdose für den Anschluss für unser Aufnahmegerät. Danach sprachen wir mit ihm über die Bedeutung der Förderung der wissenschaftlichen Forschung für das Wirtschaftswachstum. Diese Förderung wurde in Großbritannien trotz der unbefriedigenden Wirtschaftsentwicklung, die auf eine mangelnde Wettbewerbsfähigkeit zurückgeführt wurde, großzügiger betrieben als in Deutschland. Ein Gespräch schließlich, das ich mit einem Kollegen zusammen mit Fritz Hellwig von der Hohen Behörde der Montanunion über die sinkende Wettbewerbsfähigkeit der Kohle führte, ergänzte ich in einem Beitrag – aus von mir heute nicht mehr nachvollziehbaren Gründen unter dem Pseudonym Friedrich Ernst –, in dem das Konzept von Wirtschaftsminister Schiller dargestellt wurde, der in ca. vier Jahren die Förderung zurückführen, optimale Unternehmenseinheiten bilden und ergänzende sozialpolitische Maßnahmen ergreifen wollte.

 Es gab kein wirtschaftspolitisches Problem, das vom Wirtschaftsdienst nicht aufgegriffen wurde. Ich will eine kleine Auswahl von Themen nennen: Wir beschäftigten uns mit Konjunktur- und Wachstumspolitik – die Bundesrepublik erlebte 1967 die erste Rezession ihrer Geschichte –; mit der Lohn-, Finanz-, Verkehrs-, Sozial-, Währungs- und Entwicklungspolitik. Wir gewannen namhafte Experten, die ihre Sicht im Wirtschaftsdienst darlegten: Fritz Neumark behandelte Finanzreform und Gemeinschaftsaufgaben, der amerikanische Ökonom Harry D. Johnson Zollpräferenzen für Entwicklungsländer, Andreas Predöhl Freihandels- versus Wirtschaftsgemeinschaft; Wilfried Schreiber, der das Konzept der dynamischen Rente entwickelt hatte, beschäftigte sich mit aktuellen sozialpolitischen Fragen; der niederländische Ökonom – und spätere Wirtschaftsnobelpreisträger – Jan Tinbergen mit Friedenspolitik; der Berliner Ökonom Helmut Arndt stellte fest, dass die Pressekonzentration ein Stadium erreicht hatte, in dem ernste Gefahren für die politische und kulturelle Entwicklung drohten. Er wies auf Grund anglo-amerikanischer Erfahrungen auch darauf hin, dass das auf Werbung basierende Privatfernsehen das Qualitätsniveau des öffentlich-rechtlichen Fernsehens absenkte. Auf der Grundlage der Bevölkerungsprognosen von 1966 beschäftigten sich Otto Ernst Fischnich, John M. Anderson und Wilhelm Schulte aus Rom, Hans Wilbrandt aus Göttingen sowie E. J. Bigwood aus Brüssel im Zeitgespräch mit der Frage, ob und wie sechs Milliarden Menschen ernährt werden könnten.

 Ich muss die zu lang werdende Liste von behandelten Themen und illustren Namen, die zum Erfolg des Wirtschaftsdienst beitrugen, aus Platzgründen abbrechen. Anfügen möchte ich aber noch die Information, dass ich die spannende Aufgabe der verantwortlichen Leitung dieser herausragenden Zeitschrift nach dem November 1967 nur aufgegeben habe, weil sie mir keine ausreichende Zeit ließ, meine Promotion abzuschließen.

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