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Zuwanderung nach Deutschland – Problem und Chance für den Arbeitsmarkt

Ein viel gelesener und diskutierter Artikel des Wirtschaftsdienst

94. Jahrgang, 2014, Heft 3

Ein Plädoyer für die Arbeitnehmerfreizügigkeit

Herbert Brücker

Die Migration innerhalb der Europäischen Union erlebt durch die Eurokrise und die EU-Osterweiterung eine Renaissance. Dominierte bis in die 1990er Jahre die Zuwanderung aus Drittstaaten das Migrationsgeschehen in Deutschland und den meisten anderen Mitgliedstaaten der EU, so entfallen heute fast drei Viertel der Zuwanderung nach Deutschland auf die Mitgliedstaaten der erweiterten EU. Zugleich ist der Zuwachs der ausländischen Bevölkerung in Deutschland mit rund 420 000 Personen 2013 auf den höchsten Wert seit Beginn der 1990er Jahre gestiegen.

Herbert Brücker ist Leiter des Forschungsbereichs Internationale Vergleiche und europäische Integration am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) und Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Bamberg.

Die erhöhte Migration und Arbeitsmobilität im Gemeinsamen Binnenmarkt wird in breiten Teilen der Öffentlichkeit vieler Mitgliedstaaten der EU und des Europäischen Wirtschaftraums (EWR) kritisch gesehen. In der Schweiz wurden in einem Referendum mit knapper Mehrheit die Vereinbarungen zur Arbeitnehmerfreizügigkeit mit der EU abgelehnt. In Deutschland wird eine heftige Debatte über die sogenannte "Armutszuwanderung" aus Bulgarien und Rumänien und ihren Zugang zu den Sozialsystemen geführt. Glaubt man den Meinungsumfragen, würde eine Volksabstimmung in Deutschland über die Arbeitnehmerfreizügigkeit zu einem ähnlichen Ergebnis wie in der Schweiz führen. Allerdings spricht sich auch eine klare Mehrheit für weitere Zuwanderung aus. In Großbritannien will der Premier David Cameron die Europäischen Verträge neu verhandeln und die Arbeitnehmerfreizügigkeit zumindest einschränken. Bei den bevorstehenden Europawahlen werden in vielen Mitgliedstaaten der EU hohe Stimmengewinne für europaskeptische und rechtspopulistische Parteien erwartet. Die Beschränkung der Zuwanderung und die Einschränkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit sind Schlüsselthemen in der Programmatik all dieser Parteien.

Vor diesem Hintergrund erscheint es nicht übertrieben, von einer Legitimationskrise der Arbeitnehmerfreizügigkeit zu sprechen. Diese Legitimationskrise ist auch eine Legitimationskrise der EU, weil die Arbeitnehmerfreizügigkeit seit den Römischen Verträgen zu den vier Grundfreiheiten des Gemeinsamen Binnenmarktes gehört. Sie hat den Charakter eines Grundrechts für alle Bürger der Union, das durch die Europäische Verfassung geschützt wird. Dafür gibt es gute normative Gründe. Eine Beschränkung der Freizügigkeit ist immer auch ein Eingriff in die Freiheitsrechte des Einzelnen. Insofern kann die Freizügigkeit schon für sich als Gewinn für die Wohlfahrt eines Gemeinwesens angesehen werden. Zudem ist die Freizügigkeit eine Voraussetzung für den gleichberechtigten Zugang zum Arbeitsmarkt in der Gemeinschaft und somit eine wichtige Bedingung für fairen Wettbewerb.

Solche grundsätzlichen Überlegungen werden die Öffentlichkeit in den meisten Mitgliedstaaten nicht überzeugen, auch wenn die Arbeitnehmerfreizügigkeit ordnungspolitisch eine der Grundvoraussetzungen für einen funktionierenden Binnenmarkt ist. In der Öffentlichkeit wird eine andere Frage gestellt: Wem nützt oder schadet die Arbeitnehmerfreizügigkeit? Dahinter steht die Befürchtung, dass die Arbeitnehmerfreizügigkeit der Bevölkerung in den Zielländern schaden könnte. In diesem Beitrag werden deshalb die wirtschaftlichen Konsequenzen der Arbeitnehmerfreizügigkeit aus verschiedenen Perspektiven diskutiert. Dabei werden vor allem zwei Kanäle berücksichtigt, über die die Arbeitnehmerfreizügigkeit die Wohlfahrt in der EU beeinflussen kann: der Arbeitsmarkt und der Sozialstaat.

Die Gewinne durch Arbeitnehmerfreizügigkeit aus europäischer Perspektive

Betrachten wir zunächst die wirtschaftlichen Effekte der Arbeitnehmerfreizügigkeit aus europäischer Perspektive. Auch wenn wir eine zunehmende Mobilität von Arbeitskräften zwischen Mitgliedstaaten mit ähnlichem Pro-Kopf-Einkommen beobachten, so entfällt der überwiegende Teil der Arbeitsmobilität auf die Wanderung von Personen aus den neuen in die alten Mitgliedstaaten der Union. Die Wanderung von Arbeitskräften aus Ländern mit geringeren Löhnen und folglich einer geringeren Grenzproduktivität des Faktors Arbeit in Länder mit höheren Löhnen führt zu einem produktiveren Einsatz von Arbeitskraft und folglich zu aggregierten Einkommensgewinnen. Diese Gewinne fallen umso größer aus, je höher das Einkommensgefälle ist. Wenn die Zahl der Erwerbspersonen in den 15 alten Mitgliedstaaten der EU (EU15) durch die Zuwanderung aus den neuen Mitgliedstaaten um 1% wächst, ergibt sich langfristig ein Anstieg des Bruttoinlandsproduktes in der gesamten EU von 0,5% bis 0,6%. Inzwischen kann der Anteil der Bürger aus den neuen Mitgliedstaaten an der Bevölkerung in den alten Mitgliedstaaten auf etwa 1,7% geschätzt werden, so dass sich ein Anstieg des Bruttoinlandsproduktes durch die Zuwanderung aus den neuen Mitgliedstaaten von knapp 1% ergibt. Das entspricht einem aggregierten Einkommensgewinn durch den produktiveren Einsatz des Faktors Arbeit von rund 130 Mrd. Euro pro Jahr. Dies sind die Wohlfahrtsgewinne die die Gründerväter der EU im Auge hatten, als sie die Arbeitnehmerfreizügigkeit zu einer der Grundfreiheiten der Union erhoben.

Die Auswirkungen der Eurokrise

Der Nobelpreisträger Robert Mundell hat bereits 1961 darauf hingewiesen, dass eine hohe Arbeitsmobilität in einem gemeinsamen Währungsraum die wirtschaftlichen Folgen asymmetrischer Schocks deutlich dämpfen kann. Die Finanz- und Eurokrise in Europa kann als ein solcher asymmetrischer Schock verstanden werden. Auf den ersten Blick ist die Arbeitsmobilität aus den Krisenstaaten recht gering. Deutschland ist das wichtigste Zielland für Migranten aus den vier südeuropäischen Krisenstaaten Griechenland, Italien, Portugal und Spanien. Allerdings belief sich die Nettozuwanderung aus diesen Ländern nach Deutschland 2013 auf nur 64 000 Personen. Die bilateralen Wanderungssalden bilden jedoch nur einen kleinen Teil der Verschiebung der Migrationsbewegungen ab, die im Zuge der Eurokrise beobachtet werden können. Die südeuropäischen Krisenstaaten, vor allem Spanien und Italien, waren vor der Finanz- und Wirtschaftskrise die wichtigsten Zielländer der Migration in Europa. Seitdem ist die Zuwanderung deutlich zurückgegangen, ein Teil der Länder wie Spanien verzeichnet ein negatives Wanderungssaldo. Es hat sich eine massive Umlenkung der Migrationsströme ergeben: Erhebliche Teile der Migranten aus den neuen Mitgliedstaaten der EU haben sich im Zuge der Krise neue Zielländer gesucht. Darunter ist Deutschland mit Abstand das Wichtigste. Jüngere ökonometrische Studien zeigen, dass rund 70% des Zuwachses der Migration in Deutschland seit dem Vorkrisenjahr 2007 nicht auf eine Verbesserung der wirtschaftlichen Bedingungen in Deutschland, sondern auf eine Verschlechterung in alternativen Zielländern zurückzuführen ist.1 In einer kontrafaktischen Situation ohne Euro- und Finanzkrise würde die Nettozuwanderung in Deutschland deshalb nur ein Drittel des gegenwärtigen Niveaus betragen.

Dieser Umlenkungsprozess hat erhebliche wirtschaftliche Folgen: Er verringert das Arbeitsangebot in den Krisenstaaten und erhöht es in prosperierenden Staaten wie Deutschland, die von der Niedrigzinspolitik der Europäischen Zentralbank und Kapitalzuflüssen aus den Krisenstaaten profitieren. Das senkt insgesamt die Arbeitslosenquoten in dem Europäischen Währungsraum und den anderen Mitgliedstaaten der Union und verhindert eine Überhitzung mit steigenden Löhnen und Preisen in prosperierenden Ländern wie Deutschland.

Arbeitsmarktwirkungen in den Ziel- und Herkunftsländern

Aus europäischer Perspektive führt die Arbeitnehmerfreizügigkeit also zu erheblichen Produktivitäts- und Einkommensgewinnen. Zusätzlich ergeben sich positive Effekte bei asymmetrischen Schocks wie der Finanz- und Eurokrise. Nun sind die Gewinne und Verluste aber nicht gleich auf die Herkunfts- und Zielländer und die verschiedenen Gruppen in den jeweiligen Volkswirtschaften verteilt. Die wichtigsten Gewinner sind die Migranten selbst, ihre Löhne steigen erheblich: Zu Kaufkraftparitäten steigen die Löhne für Migranten aus den EU8-Staaten um einen Faktor zwei, für Migranten aus Bulgarien und Rumänien um einen Faktor drei bis vier. Zu laufenden Wechselkursen sind die Einkommensdifferenzen noch erheblich höher. Diese beeinflussen die Wohlfahrtsgewinne der Migranten und ihrer Familienangehörigen, weil ein Teil ihres Einkommens in den Herkunftsländern konsumiert wird.

Die Einschätzung der Einkommens- und Verteilungseffekte für die einheimische Bevölkerung in den Ziel- und Herkunftsländern hängt von den Annahmen ab, die in den jeweiligen Arbeitsmarktmodellen getroffen werden. Die meisten empirischen Studien finden nur geringe Lohn- und Beschäftigungseffekte der Migration auf gesamtwirtschaftlicher Ebene - wenn überhaupt. Das kann theoretisch mit dem Umstand erklärt werden, dass sich der Kapitalstock an eine Ausweitung oder Verringerung des Arbeitsangebots anpasst. Das Faktoreinsatzverhältnis von Kapital zu Arbeit bleibt zumindest langfristig konstant. Wir müssen deshalb zwischen den kurz- und langfristigen Folgen der Migration unterscheiden. Empirische Untersuchungen zeigen, dass die Anpassung des Kapitalstocks recht schnell erfolgt. Das langfristige Gleichgewicht wird deshalb recht schnell, nach drei bis fünf Jahren, erreicht. Langfristig wächst der Kapitalstock in den Zielländern durch inländische Investitionen und internationale Kapitalzuflüsse, in den Herkunftsländern schrumpft der Kapitalstock mit der Abwanderung von Arbeit. Insofern ergeben sich in den Herkunftsländern nur kurzfristig Gewinne für die Arbeitskräfte in Form höherer Löhne oder besserer Beschäftigungschancen. Das kann allerdings in einer keynesianischen Krise mit hoher Arbeitslosigkeit, etwa als Folge eines Schocks wie der Finanz- und Eurokrise, helfen. Umgekehrt sind die Auswirkungen der Migration für den Faktor Arbeit insgesamt in den Zielländern langfristig neutral, kurzfristig sind die Effekte nach den meisten empirischen Studien gering.

Das heißt nicht, dass es keine relevanten Verteilungseffekte der Migration gibt. Je nachdem, ob und in welchem Umfang einzelne Gruppen im Produktionsprozess zueinander in einem Substitutions- oder Komplementaritätsverhältnis stehen, gewinnen oder verlieren einzelne Beschäftigungsgruppen. Das hängt natürlich von der Qualifikationsstruktur der Zuwanderer ab. Die große Mehrheit der jüngeren empirischen Untersuchungen zeigt, dass Migranten und Personen ohne Migrationshintergrund imperfekte Substitute im Arbeitsmarkt sind, d.h. dass Migranten auch bei gleicher Qualifikation und Berufserfahrung nur unvollkommen mit Einheimischen im Arbeitsmarkt konkurrieren. Das kann auf Sprache, unterschiedliche Bildungssysteme, Arbeitsmarktdiskriminierung und andere Faktoren zurückgeführt werden. Diese Arbeitsmarktsegmentierung wiederum bewirkt, dass die einheimischen Arbeitskräfte in fast allen Qualifikationsgruppen von der Zuwanderung profitieren, während sich die negativen Effekte auf die bereits im Land lebenden Zuwanderer konzentrieren. Sie sind die wirtschaftlichen Verlierer des Anstiegs der Zuwanderung, während die meisten einheimischen Arbeitskräfte gewinnen.

Über die Verhältnisse in den Herkunftsländern ist weniger bekannt. Auch hier hängen die Effekte der Zuwanderung von der Qualifikationsstruktur ab, aber auch, ob die Auswanderer arbeitslos sind oder in Arbeitsmarktsegmenten mit starker Arbeitslosigkeit beschäftigt sind. Die Auswanderer aus den neuen EU-Mitgliedstaaten und den Krisenstaaten sind deutlich jünger als der Bevölkerungsdurchschnitt und im Durchschnitt besser qualifiziert als die Bevölkerung in den Herkunftsländern. Allerdings konzentriert sich in diesen Kohorten häufig auch die Arbeitslosigkeit. Simulationsstudien zeigen deshalb, dass aufgrund dieser Struktureffekte die Arbeitslosigkeit in den Herkunftsländern durch Abwanderung sinkt, so dass die schwächer Gestellten nicht per se durch die Abwanderung qualifizierter und hochqualifizierter Arbeitskräfte verlieren.

Auch das Phänomen des Brain Drain wird von der jüngeren Literatur sehr viel differenzierter als in der Vergangenheit beurteilt.2 Die jüngere Forschung zeigt, dass Migration die individuellen Anreize in Bildung zu investieren erhöht, weil die Rendite von Humankapitalinvestitionen durch Migration steigt. Weil aber nur ein Teil der potenziellen Migranten später tatsächlich migriert oder viele Migranten auch in ihre Herkunftsländer zurückkehren, kann sich auch bei einer Nettoauswanderung von qualifizierten Migranten eine höhere Humankapitalausstattung in den Herkunftsländern ergeben. Empirische Untersuchungen finden für diese These Belege. Gerade bei den mittel- und osteuropäischen Herkunftsländern der EU und den südeuropäischen Krisenstaaten können wir in den vergangenen beiden Dekaden eine erhebliche Bildungsexpansion beobachten.

Es ergeben sich also insgesamt aus europäischer Perspektive durch die Wanderung von Arbeitskräften steigende Löhne und eine Verringerung der Arbeitslosigkeit. Diese Effekte sind umso größer, wenn Migranten aus Ländern mit geringen Löhnen und hoher Arbeitslosigkeit in Länder mit hohem Einkommen und geringer Arbeitslosigkeit wandern. In den Ziel- und Herkunftsländern sind die gesamtwirtschaftlichen Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt recht gering, allerdings können einzelne Gruppen im Arbeitsmarkt deutlich gewinnen oder verlieren. Die Arbeitsmarktwirkungen der Migration können also schwerlich vor dem Hintergrund der vorliegenden empirischen Erkenntnisse als Argument für eine Einschränkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit herangezogen werden. Im Gegenteil, aus europäischer Perspektive werden Ungleichgewichte auf dem Arbeitsmarkt verringert und auch in den Zielländern gewinnen die einheimischen Arbeitskräfte.

Auswirkungen auf den Sozialstaat

Auf den ersten Blick wirft die Zuwanderung von Arbeitskräften Kosten für den Sozialstaat in den Zielländern auf: Personen mit Migrationshintergrund haben in Deutschland im Durchschnitt rund doppelt so hohe Arbeitslosen- und SGB-II-Leistungsbezieherquoten im Vergleich zu Personen ohne Migrationshintergrund. Auch die durchschnittlichen Steuer- und Abgabenzahlungen sind geringer. Allerdings sind die Migranten im Durchschnitt sehr viel jünger als die einheimische Bevölkerung. Das Durchschnittsalter von Neuzuwanderern beträgt in Deutschland 27 Jahre. Der Anteil der Bezieher von Leistungen der Renten- und Pflegeversicherungen ist unter den Migranten deshalb sehr viel geringer als in der einheimischen Bevölkerung, das Gleiche gilt für Leistungen der Krankenkassen. Per saldo leistet die Migrationsbevölkerung deshalb zumindest aus statischer Perspektive einen positiven Nettobeitrag zur fiskalischen Bilanz der öffentlichen Haushalte und Sozialversicherungssysteme. Dieser Beitrag wird von Holger Bonin mit 2000 Euro pro Ausländer und Jahr quantifiziert.3 Zwar sinken diese Beiträge langfristig, weil auch die Migrationsbevölkerung altert. Aber auch langfristig ergibt sich nach Berechnungen von Bonin ein positiver Nettobeitrag.4

Dieses Bild dürfte sich künftig noch deutlich verbessern. Die Qualifikation der Neuzuwanderer ist in den vergangenen Jahren stark gestiegen. Der Anteil der Hochschulabsolventen ist deutlich höher als im deutschen Bevölkerungsdurchschnitt, er belief sich 2010 auf 43%. Nach den Angaben des Mikrozensus ist der Anteil der Hochschulabsolventen unter den Neuzuwanderern im Zuge des massiven Anstiegs der Migration 2012 zwar auf 35% gesunken, liegt aber immer noch über dem Bevölkerungsdurchschnitt (25%). Der Anteil der Personen ohne abgeschlossene Berufsausbildung ist zwar unter den Neuzuwanderern ebenfalls höher als in der deutschen Bevölkerung, aber hat sich in der vergangenen Dekade halbiert. Insgesamt sind die Neuzuwanderer sehr viel besser in den Arbeitsmarkt integriert als etwa die Migranten der Gastarbeitergeneration. Die Arbeitslosen- und Leistungsempfängerquoten liegen bei den Neuzuwanderern bei etwa 10% und sind somit nur geringfügig höher als in der einheimischen Bevölkerung. Entsprechend ergeben sich höhere fiskalische Gewinne der öffentlichen Haushalte und Sozialversicherungssysteme.

Das gilt auch für die öffentlich besonders kontrovers diskutierte Gruppe der Bulgaren und Rumänen. Zwar ist das durchschnittliche Bildungsniveau der Bulgaren und Rumänen nicht so hoch wie im Durchschnitt der Neuzuwanderer, aber auch hier ist der Anteil der Hochschulabsolventen höher als im Bevölkerungsdurchschnitt. Allerdings war nach den Angaben des Mikrozensus der Anteil der Personen ohne abgeschlossene Berufsausbildung mit 28% deutlich höher als in der Bevölkerung insgesamt. Aber die Mehrheit der Bulgaren und Rumänen sind Arbeits- und keine Armutszuwanderer: In den Sommermonaten sind rund zwei Drittel der hier lebenden Bulgaren und Rumänen erwerbstätig, in den Wintermonaten gut die Hälfte. Der Anteil der SGB-II-Leistungsempfänger liegt bei gut 10%, die Arbeitslosenquote war zur Jahresmitte 2013 geringer als im Bevölkerungsdurchschnitt. Auch der Anteil der Kindergeldempfänger ist deutlich niedriger als in der deutschen Bevölkerung. Allerdings zeigen sich in einigen Kommunen wie Duisburg, Dortmund und Berlin erhebliche Integrationsprobleme. Aber hier geht es bislang weniger um hohe Quoten von Beziehern sozialer Transferleistungen, sondern um ein anderes Phänomen: In diesen Orten sind große Teile der Bevölkerung aus Bulgarien und Rumänien weder als erwerbstätig registriert noch beziehen sie Transferleistungen wie Hartz-IV. Dies stellt die betroffenen Kommunen vor erhebliche soziale Probleme, ist aber nicht repräsentativ für die Zuwanderung aus Bulgarien und Rumänien insgesamt. Insofern ist das Bild, dass die Zuwanderung aus den ärmeren EU-Mitgliedstaaten zu hohen Anteilen von Leistungsbeziehern führt, nicht korrekt. Zudem besteht die Chance, dass die Arbeitnehmerfreizügigkeit zu sinkenden Arbeitslosigkeits- und Leistungsempfängerquoten führen wird: Im Falle der EU8-Staaten ist zwei Jahre nach Einführung der vollständigen Arbeitnehmerfreizügigkeit die Arbeitslosenquote um mehr als 5 Prozentpunkte und die SGB-II-Leistungsbezieherquote um 1,2 Prozentpunkte gesunken.

Risiken für den Sozialstaat in den Herkunftsländern

Aufgrund der günstigen Altersstruktur der Zuwanderer ist der Sozialstaat also gegenwärtig der Gewinner der Zuwanderung. Das ist auch ein Ergebnis der intergenerationalen Umverteilung der Rentenversicherungssysteme zugunsten der älteren Generationen. Mit zunehmender Qualifikation der Neuzuwanderer und einer besseren Integration dieser Gruppen in den Arbeitsmarkt steigen diese Gewinne. Hier zeichnet sich aber ein erhebliches Verteilungsproblem zwischen den Ziel- und Herkunftsländern der Migration im Gemeinsamen Binnenmarkt ab: Auch die Herkunftsländer sind ähnlich wie Deutschland vom demografischen Wandel betroffen. In Bulgarien und Rumänien sind bereits rund 10% der Bevölkerung in andere EU-Staaten ausgewandert. Diese Wanderungsverluste verschärfen die Kosten des demografischen Wandels in den Herkunftsländern, vor allem die Belastungen der Rentenversicherungssysteme. Altersarmut könnte eine der Folgen sein. Die Arbeitnehmerfreizügigkeit stellt insofern weniger eine Bedrohung für die Sozialstaaten der Zielländer, sondern eher für die Herkunftsländer dar. Dies wird in Zukunft eine der großen Herausforderungen der Europäischen Integration werden.

  • 1 S. Bertoli, H. Brücker, J. Fernández-Huertas Moraga: The European crisis and migration to Germany: expectations and the diversion of migration flows, IZA Discussion Paper, Nr. 7170, 2013.
  • 2 Vgl. T. Boeri, H. Brücker, F. Docquier, H. Rapoport (Hrsg.): Brain drain and brain gain: the global competition to attract high-skilled migrants, Oxford 2012.
  • 3 H. Bonin: Der Finanzierungsbeitrag der Ausländer zu den deutschen Staatsfinanzen: eine Bilanz für 2004, IZA Discussion Paper, Nr. 2444, 2006.
  • 4 Ebenda.

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