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Ein Beitrag zur Erneuerung der Sozialen Marktwirtschaft

Eine Stellungnahme des damaligen Bundesministers der Finanzen zur Privatisierung von Bundesunternehmen

von Dr. Gerhard Stoltenberg

64. Jahrgang, 1984, Heft 2

Nach dem Zweiten Weltkrieg haben die Länder Westeuropas in ihrer Industriepolitik unterschiedliche ordnungspolitische Vorstellungen verwirklicht. In einer Reihe unserer Nachbarländer wurden führende Unternehmen, zum Teil auch ganze Branchen, systematisch verstaatlicht.

Gerhard Stoltenberg (1928-2001) war ein deutscher Historiker und CDU-Politiker. Er war Ministerpräsident des Landes Schleswig-Holstein, von 1982 bis 1989 Bundesminister der Finanzen und anschließend bis 1992 Bundesminister der Verteidigung.

©Bundeswehr/Neuhaus-Fischer, CC BY 2.0

Politisch wurde dabei die Auffassung vertreten, der Staat müsse sich - auch als Unternehmer - direkt in die Entwicklung der Wirtschaft einschalten, ihre Struktur verändern, Arbeitsplätze schaffen und erhalten, für bessere und billigere Produkte sorgen und beispielhaft in seinen Unternehmen die sozialen Bedingungen der Arbeitnehmer verbessern. Es soll nicht bezweifelt werden, daß in diesen Ländern öffentliche Unternehmen durchaus Leistungen vollbracht haben. So kann z. B. die französische Luft- und Raumfahrtindustrie auf zum Teil beachtliche Entwicklungserfolge zurückblicken.

In der Mehrzahl der Fälle wurden verstaatlichte Unternehmen aber über kurz oder lang zu Problemfällen ersten Ranges. Durch jahrelange Verlustproduktion sind sie zu einer Dauerbelastung der Staatshaushalte auf Kosten der Steuerzahler geworden. Heute können wir eine Konzentration öffentlicher Unternehmen vor allem in strukturell überholten Sektoren feststellen. Viele von ihnen waren nicht in der Lage, die durch die fortschreitende internationale Arbeitsteilung notwendigen Anpassungsprozesse zu vollziehen. Es wäre sicherlich falsch und ungerecht, die Unternehmen allein für diese Entwicklung verantwortlich zu machen. Oft waren es einfach die Vielfalt der Interessen und die Menge der Ansprüche, denen diese Unternehmen gerecht werden sollten bzw. die sie nur unter Hinnahme von Fehlentwicklungen im eigentlichen Unternehmensbereich erfüllen konnten.

Die unterschiedlichen ordnungspolitischen Vorstellungen haben in Europa bis in die letzten Jahre angehalten: Verstaatlichung in Frankreich und Griechenland auf der einen, eine entschlossene Politik der Entstaatlichung in Großbritannien auf der anderen Seite. Die Beweggründe für das britische Programm der Privatisierung und der Liberalisierung verdienen besondere Aufmerksamkeit, nachdem gerade jetzt in der Bundesrepublik Deutschland wieder die Forderung nach Verstaatlichung von Schlüsselindustrien erhoben worden ist.

Medizin der Liberalisierung

In Großbritannien wurde festgestellt, daß nahezu alle mit der Verstaatlichung verfolgten Ziele nicht erreicht worden sind. Im Gegenteil, die wirtschaftliche Struktur Großbritanniens hat sich laufend verschlechtert und bedurfte einer grundlegenden Erneuerung. Die Arbeitsplätze sind nicht sicherer geworden; gerade in den öffentlichen Unternehmen mußten in den letzten Jahren die Belegschaften beträchtlich reduziert werden, um den Produktivitätsrückstand gegenüber anderen europäischen Ländern aufzuholen. Das Leistungsangebot staatlicher Unternehmen war weder billiger noch qualitativ besser. Die Löhne in den staatlichen Unternehmen waren demgegenüber höher. Die Medizin der Liberalisierung, die der britischen Wirtschaft, insbesondere den staatlichen Unternehmen, unter der heutigen Regierung verabreicht wurde, hat sicherlich bitter geschmeckt, aber die Fortschritte in der Genesung sind unverkennbar.

In der Bundesrepublik Deutschland ist unter Konrad Adenauer und Ludwig Erhard die grundsätzliche Entscheidung für die Soziale Marktwirtschaft gefallen. Die rasche Entwicklung der Wirtschaft unseres Landes verdanken wir vor allem dieser Entscheidung. Dabei soll die Bedeutung des Beitrages der öffentlichen Wirtschaft keineswegs übersehen werden. Es genügt, auf die Leistungen der Elektrizitätswirtschaft und der Deutschen Bundespost hinzuweisen. Der große Erfolg der Sozialen Marktwirtschaft beruht jedoch in erster Linie auf dem absoluten Vorrang der privaten Initiative, dem Wettbewerb zwischen privaten Unternehmen und der Effizienz des Marktes.

Notwendige Strukturanpassungen

Die 70er Jahre haben bewiesen, wie belastbar die Soziale Marktwirtschaft tatsächlich ist. Sie hat die vielfältigen Verstöße der damaligen Finanz- und Wirtschaftspolitik gegen ihre Spielregeln überstanden – wenn auch nicht ohne Schaden. In den 70er Jahren ist es zwar nicht zu Verstaatlichungen von Industriezweigen gekommen, aber dennoch hat sich der Staat fortlaufend ausgedehnt. Die Flut der Gesetze und Verordnungen ist drastisch angeschwollen. Die Ansprüche gegenüber dem Staat nahmen immer mehr zu.

Beim einzelnen Bürger äußerten sie sich in der Erwartung immer höherer Einkommen und einer immer besseren Absicherung gegen die beruflichen und privaten Risiken des Lebens. Bei vielen Unternehmern und Unternehmen entstand die Vorstellung, die öffentliche Hand werde für den Bestand der Unternehmen – auch bei völlig unzulänglicher Strukturanpassung – sorgen und international erreichte Produktionsanteile durch Subventionen sichern. Diese Haltung mag aus der Sicht des einzelnen Bürgers, eines einzelnen Unternehmens oder einer einzelnen Branche verständlich sein, sie steht aber im Widerspruch zur Grundidee der Sozialen Marktwirtschaft und führt letztlich zu einem Verlust an internationaler Wettbewerbsfähigkeit. Dies wiegt besonders schwer in einem Land, dessen Wohlstand vom Export abhängt und das seine Position in der Spitzengruppe der Industrienationen gegenüber nachdrängenden Wettbewerbern zu verteidigen hat.

In den 70er Jahren ist unter dem Eindruck der in der Nachkriegszeit erzielten Erfolge der Sozialen Marktwirtschaft und dem damit geschaffenen Polster auch bei uns zum Teil übersehen worden, welche Konsequenzen die Internationalisierung der Märkte mit sich gebracht hat. Die Bundesrepublik kann daher von der Kritik an den europäischen Industrieländern nicht ausgenommen werden, die angesichts der internationalen Herausforderungen notwendigen Strukturanpassungen nicht ausreichend vorgenommen zu haben. Strukturkonservierung und öffentlicher Konsum behielten ein zu großes Gewicht. Die Verlagerung wirtschaftlicher Schwerpunkte in den pazifischen Raum, zum Beispiel nach Kalifornien und Japan, wurde nicht deutlich erkannt und der Öffentlichkeit nicht bewußt. Es wurden nicht genügend Anstrengungen unternommen, z. B. die gerade im asiatischen Raum hohen sprachlichen Barrieren zu überwinden und die Beobachtung der Märkte und Technologien dieser Länder zu vertiefen, um ihnen frühzeitig mit geeigneten Strategien begegnen zu können.

Dies soll keineswegs heißen, daß die deutsche Wirtschaft nicht auch Erfolge erzielt hätte. Es gibt keine Veranlassung, mutlos zu werden. Im Gegenteil, erfolgreiches deutsches Engineering im internationalen Anlagenbau oder der weltweite Erfolg unserer Automobilfirmen sind Beispiele, wie den internationalen Herausforderungen entsprochen werden kann. Dennoch gibt es Rückstände, wie etwa in der Mikroelektronik oder in der Informationstechnologie, die es schleunigst aufzuholen gilt.

Weniger Staat

Bundeskanzler Kohl hat in seiner Regierungserklärung am 4. Mai 1983 klar formuliert: „Wir wollen nicht mehr Staat, sondern weniger; wir wollen nicht weniger, sondern mehr persönliche Freiheit.“ Für die Tätigkeit des Staates als Unternehmer und als Anbieter öffentlicher wirtschaftlicher Leistungen muß dies heißen:

  • Rechts- und Verwaltungsvorschriften sind zu vereinfachen und bürokratische Hemmnisse abzubauen. Die Vereinfachung von Rechts- und Verwaltungsvorschriften ist 1983 durch einen – bereits im Juli gefaßten – Kabinettsbeschluß vorangetrieben worden. Zur Unterstützung dieser Arbeiten wurde eine unabhängige Kommission berufen. Damit sind wichtige Arbeiten an dieser Dauerfrage begonnen worden.
  • Öffentliche Dienstleistungen sind dort zu privatisieren, wo diese durch private Unternehmen ebenso gut oder besser erbracht werden können. Dies muß sich im wesentlichen im kommunalen Bereich vollziehen. Es gibt Anzeichen, daß sich der Prozeß des Umdenkens auf dieser Ebene verstärkt hat. Natürlich muß darauf geachtet werden, daß Qualität und Konditionen des Leistungsangebots durch die Übertragung auf Private nicht leiden. Es kann aber keinem Zweifel unterliegen, daß die öffentlichen Träger in der Vergangenheit bei ihrem Leistungsangebot des Guten zuviel getan haben.
  • Bei der Veräußerung von Anteilsrechten an Unternehmen als drittem Teilaspekt einer Wirtschaftspolitik, die den Staat auf seine eigentlichen Aufgaben zurückführt, ist in erster Linie an den Bund zu denken. In den letzten 70 Jahren hat sich bei ihm ein beachtlicher Beteiligungsbesitz aufgebaut. Dieser Besitz hat vielfältige Wurzeln. In und nach dem Ersten Weltkrieg (z. B. Aluminiumproduktion) und in der Zeit der gelenkten Autarkie- und Rüstungswirtschaft (z. B. Eisenerzgewinnung und -verhüttung in Salzgitter, Aufbau des Volkswagenwerkes) ist zur Erfüllung der damals als öffentlich verstandenen Aufgaben eine Vielzahl staatlicher Betriebe und Unternehmen entstanden. In der Nachkriegszeit sind beim Bund mit Entwicklungshilfe, Forschungs- und Technologiepolitik sowie der Finanzierung von Programmen neue Aufgaben dazu gekommen. Das dafür erforderliche Instrumentarium hat den Beteiligungsbesitz des Bundes beträchtlich vergrößert.

Abbau des Beteiligungsbesitzes

Die CDU/CSU-geführten Bundesregierungen haben in der Nachkriegszeit unter den Zielvorstellungen der Sozialen Marktwirtschaft energisch die Politik der Veräußerung von entbehrlichen staatlichen Unternehmensanteilen verfolgt. In der Öffentlichkeit sind die damaligen Verkaufsaktionen Preussag, Volkswagenwerk und VEBA noch in Erinnerung. Staatliche Belange sind dadurch nicht beeinträchtigt worden. Unter Unionspolitikern, vor allem den Bundesschatzministern Werner Dollinger und Kurt Schmükker, wurde die systematische Neuordnung und Überprüfung des Beteiligungsbesitzes eingeleitet. Durch das Wahlergebnis von 1969 ist diese Politik unterbrochen worden. Zwar versuchte Bundesfinanzminister Alex Möller im Jahre 1970, mit dem Modell einer Bundesholding ein geschlossenes Konzept für den Beteiligungsbereich zu finden, scheiterte damit jedoch schon an den Meinungsverschiedenheiten in seiner eigenen Partei.

Ein systematischer Abbau des Beteiligungsbesitzes ist innerhalb der damaligen Regierungskoalition weder erörtert noch versucht worden. Regierung und Beteiligungsverwaltung folgten vielmehr konzernpolitischen Vorstellungen der Unternehmen, die eine Politik der Diversifikation verfolgten, um ihre Strukturen zu ergänzen und Auslandsorganisationen aufzubauen. Diese Diversifikation ist vielfach nicht geglückt.

Nach dem Regierungswechsel im Herbst 1982 hat das Bundesfinanzministerium sofort mit einer Bestandsaufnahme begonnen und Prioritäten gesetzt. Die Konsolidierung verlustbringender Unternehmen erhielt den Vorrang, um den Aufbau unkalkulierbarer Haushaltsrisiken zu verhindern.

Gleichzeitig wurde das Bewußtsein dafür geschärft, daß Zurückhaltung beim Erwerb neuer Beteiligungen erwartet wird. Dies war vor allem im mittelbaren Bereich notwendig, der sich in den 70er Jahren im Gegensatz zum unmittelbaren Beteiligungsbereich des Bundes weiter ausgedehnt hatte.

Eine Entscheidung, ob eine Beteiligung verringert oder ganz aufgegeben werden kann, setzt eine sorgfältige Prüfung voraus, ob noch ein wichtiges Bundesinteresse an ihr besteht. Sollte diese Frage bejaht werden, muß geprüft werden, ob die Beteiligung in bisheriger Höhe notwendig ist. Diese Untersuchungen sind im Gang. Ergebnisse werden 1984 dem Bundeskabinett berichtet.

Die Reduzierung der VEBA-Beteiligung des Bundes von 43,75 % auf 30 % ist bereits wenige Monate nach der Bundestagswahl am 26. Oktober 1983 beschlossen und im Januar 1984 plangemäß vollzogen worden. Mit dieser Entscheidung wurde die ordnungspolitische Entschlossenheit dieser Bundesregierung bekundet, ihre Beteiligungspolitik neu zu gestalten.

An der VEBA-Entscheidung ist von Vertretern der Opposition grundsätzliche Kritik geäußert worden. Es wurde die Meinung vertreten, gerade auf dem Energiemarkt seien oligopolistische Strukturen vorhanden. Der Bund müsse daher an einer starken, einer mehrheitlichen Beteiligung interessiert sein. Die früheren Bundesregierungen haben in den 70er Jahren keine Mehrheitsbeteiligung begründet, sondern das zunächst propagierte Konzept eines nationalen Mineralölkonzerns stillschweigend fallen lassen. Der Stimmrechtsvorzug des Bundes, der bei der Teilprivatisierung 1965 geschaffen worden war, wurde bereits 1971 aufgehoben.

Veräußerungsmaßstäbe

In der Öffentlichkeit wird verschiedentlich die Meinung vertreten, die Bundesregierung veräußere ertragsstarke Beteiligungen und behalte die Verlustunternehmen. Dieses Argument führt in die Irre. Maßgeblich ist, ob ein wichtiges Interesse des Bundes gegeben ist oder nicht. Ist ein solches nicht erkennbar oder kann es mit einer niedrigeren Beteiligung wahrgenommen werden, muß verkauft werden können. Anders als bei Privatkonzernen kann es nicht Aufgabe des Staates sein, Umfang und Zusammensetzung seines unmittelbaren Beteiligungsbesitzes am Prinzip des Gewinn- und Verlustausgleichs zwischen seinen Beteiligungen zu orientieren. Entscheidend ist allein das wichtige Bundesinteresse. Ferner muß Flexibilität gewahrt werden: Es entstehen neue Aufgaben, andere verlieren an Bedeutung. Dem muß durch Reduzierung auch ertragsstarker Beteiligungen entsprochen werden können. Hinzu kommt die Verpflichtung, Verluste durch Strukturanpassungen abzubauen.

Der Abbau von Bundesbeteiligungen wird bei uns bei weitem nicht das finanzielle Ausmaß wie in Großbritannien erreichen. Dort werden in der gegenwärtigen Legislaturperiode Erlöse von 7,5 Mrd. Pfund, das sind rund 30 Mrd. DM, erwartet. Der erheblich geringere Umfang des Bundesbesitzes läßt im Vergleich dazu nur wesentlich bescheidenere Summen erwarten. Diese werden zum weiteren Abbau der Neuverschuldung verwendet. Die Haushaltsentlastung steht dabei jedoch nicht im Vordergrund der Überlegungen der Bundesregierung. Entscheidend ist, daß unsere Wirtschaft flexibel auf binnenwirtschaftliche Strukturveränderungen reagiert und sich den von außen kommenden Herausforderungen gewachsen zeigt. Sie muß jederzeit den Bedürfnissen der Märkte genügen können. Hierzu hat auch eine Neugestaltung unserer Beteiligungspolitik beizutragen.

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