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Der erste Weltwirtschaftskongress

Wirtschaftliche Sachverständige beraten erstmals über die Probleme der Weltwirtschaft nach dem Krieg.

von Spectator

Die unglücklichen Bürger der letzten Menschenalter, in Staaten gruppiert, die weder miteinander noch gegeneinander leben können, die sich ebenso wenig entbehren wie ertragen mögen und also immer in Gefahr sind, aus Friedenszuständen, die keinen Frieden bedeuten, in Kriege zu stürzen, die sie eigentlich nicht führen wollen, und diese durch Friedensschlüsse zu beenden, die sie noch weniger wünschen können diese unglücklichen Bürger haben schon Jahrzehnte vor dem Kriege mannigfache Anstrengungen gemacht, sich aus der Isolierung zu lösen, in die sie ein Ineinander von Zwang und Freiwilligkeit zu bannen schien. Das in jedem Betracht sichtbarste Ergebnis dieser Versuche waren die internationalen Veranstaltungen, die unter dem N amen Weltausstellungen bekannt sind. Tut man diesen monströsen Jahrmärkten unrecht, wenn man sie mit den Festen vergleicht, an denen sich das vielgespaltene Griechenland zu Wettspiel und Gottesdienst zusammenfand? Der Fortschritt der Zeiten hatte darauf gedrungen, den Kampf der Wagen und Gesänge durch den Wettbewerb von Maschinen und Vergnügungsstätten zu ersetzen, und an die Stelle feierlicher Lieder waren die Festrede und der Leitartikel getreten. Sie sprachen von dem völkerverbindenden Geist der neuen Zeit und ihren großen technisch-friedlichen Errungenschaften. Auch der wohlwollendste Chronist wird nicht feststellen können, dass sie die Bildung eines lebendigen europäischen Gemeinbewusstseins gefördert haben. Man lernte vom ausländischen Konkurrenten, aber er selber blieb unbekannt. Die Arbeitshypothese von der Gleichheit aller wohlerzogenen Menschen westlicher Zivilisation diente dazu, ihre Gewohnheiten einander anzugleichen; ihr nationales Eigenwesen aber wurde dadurch nur umso tiefer verdeckt. Noch heute weiß der Franzose vom Deutschen oder der Amerikaner vom Italiener so viel und so wenig wie vor einem Jahrhundert.

7. Jahrgang, 1922, Heft 35

Dies ist im Krieg sehr deutlich geworden und hat sich auch in der Nachkriegszeit wenig geändert. Die Stacheldrahte, hinter denen die deutsche Delegation zu den Friedensberatungen in Versailles gehalten wurde, verschwanden bei den Beratungen der nächsten Jahre, aber es stellte sich heraus, dass es stärkere Hindernisse des Verstehens und Ordnens gibt als Stacheldrahte, nicht nur zwischen Deutschland und seinen Kriegsgegnern, sondern auch zwischen diesen selber. Hier sollten nun die Konferenzen der Staatsmänner und der von ihnen approbierten Sachverständigen helfen. Wenn es nahe liegt, die Weltausstellungen mit den olympischen Spielen zu vergleichen, so ist es nur billig, diese Konferenzen mit den Kirchenkonzilien des christlichen Zeitalters zusammenzustellen. Es wird nur eine Meinung darüber geben, dass der Vergleich zugunsten der Konzilien ausfällt. Sie haben niemals versucht, die Welt glauben zu machen, dass eine Linie zugleich krumm und gerade und das ein Ereignis zugleich möglich und unmöglich sein könne. Die Konferenzen haben das mit großer Virtuosität getan und Schlimmeres: sie haben schließlich kein anderes Resultat gehabt, als eine neue Konferenz zu gebären, die wiederum neue Konferenzen nötig macht. Man redete schließlich von einer Konferenz, die einberufen werden müsse, um weitere Konferenzen auszuschließen. Inzwischen verkommen Staat und Wirtschaft Mitteleuropas.

Was wird an die Stelle der Konferenzen treten? Es sind Anzeichen dafür vorhanden, dass wir in die Phase der Kongresse eingetreten sind. Die Weltausstellungen haben ein europäisches Gemeinbewusstsein vorgegaukelt, die diplomatischen Konferenzen haben geheuchelt und sabotiert; die Hoffnung des Tages gilt den Fachleuten und Sachverständigen, den Wissenschaftlern und Technikern. Man denkt an Männer, die der Praxis nahe genug sind, um erfahren zu sein, und doch unabhängig genug, um über die Zaunpfahle des eigenen Berufs und Interesses sehen und raten zu können; an Forscher, die in dem Lärm der öffentlichen Meinung die Ruhe des wissenschaftlichen Urteils sich bewahrt haben und die nicht nach Maßgabe ihrer Geschäftigkeit, sondern der Fundiertheit ihrer Einsichten ausgewählt sind. Diese Männer sollen, am besten auf neutralem Boden, zusammenkommen und in den Formen eines wissenschaftlichen Kongresses die Probleme des Neubaus der Weltwirtschaft erörtern. („Wiederaufbau" ist irreführend. Es ist weder möglich, noch eigentlich gemeint, das Alte wiederherzustellen. Die Absicht ist: erst die Fundamente zu schaffen, deren Fehlen den Einsturz von gestern verschuldet hat.)

Einen ersten Anfang in dieser Richtung, nicht mehr, aber auch nicht weniger, bedeutet der Weltwirtschaftskongress, der vom 18. bis 26. August in Hamburg vor einer sehr zahlreichen Hörerschaft abgehalten worden ist, als zentrale Veranstaltung der Ersten Hamburger Überseewoche. Der Kongress war in der Tat international. Aus England war John Maynard Keynes gekommen, aus Holland Prof. Bruins, aus der Schweiz Ständerat Wettstein, aus Spanien Prof. Bernis, aus Argentinien Prof. Bunge, aus Nordamerika Prof. Coars. Von den deutschen Referenten seien die Professoren Albrecht Mendelssohn Bartholdy und Bernhard Harms und die Exminister Wissell und Stegerwald genannt. Die meisten Vorträge bezogen sich auf die wirtschaftlichen Zentralprobleme der Weltwirtschaft nach dem Kriege. Ein Tag war der russischen Frage gewidmet. Das Bild bestimmend, bleiben in der Erinnerung die eröffnende Rede Mendelssohn Bartholdys über die sittlichen Grundlagen der Wirtschaft und das abschließende Referat von Keynes über die deutsche Reparationspolitik, beide gleich ausgezeichnet durch Gewicht und Mut, Ruhe und Maß, Geist und Bereitschaft.

Der Kongress war ein Experiment und eine Neuerung in mehr als einem Sinn. Die Einladungen gingen nicht von einem Gremium von Wissenschaftlern aus, obgleich sie fast ausschließlich an Männer der Wissenschaft gerichtet waren, sondern von dem Präsidium der Überseewoche, das in der Hauptsache aus Männern der geschäftlichen Praxis zusammengesetzt war. Die Universität hatte ihre Raume geliehen, aber es scheint, dass sie selber nicht bei der Veranstaltung des Kongresses mitwirken durfte. Eine Erörterung der einzelnen Referate fand nicht statt, Sektionen wurden nicht gebildet. Nach den einzelnen Vorträgen hob ein Mitglied des Präsidiums aus dem Gesagten das hervor, was ihm am ,bemerkenswertesten schien, so wie man es von den Tagungen der großen Interessenvertretungen gewohnt ist, und das Schlusswort sprach der Präses der Hamburger Handelskammer. Die Gelehrten hatten so Gelegenheit zu beobachten, worin für die Praktiker der Schwerpunkt des Interesses an ihren Darlegungen lag. Aber es konnte bei dieser Handhabung nicht ausbleiben, dass bei allem Takt und aller Zurückhaltung bisweilen ein gewisses Missverhältnis fühlbar wurde. Dies wird auf beiden Seiten gefühlt worden sein, und so wird das interessante Experiment dazu beitragen, dass Praktiker und Wissenschaftler anfangen, sich besser zu verstehen und nach neuen Wegen der Zusammenarbeit zu suchen. Die Notwendigkeit ist für beide Teile gleich dringlich. Vielleicht aber wird man im nächsten Jahre finden, dass die glücklich begonnene Aufgabe am zweckmäßigsten in den alten Formen eines wissenschaftlichen Kongresses unter fachmännischer Leitung mit Referaten, Korreferaten, Diskussion und Untergruppen und mit noch lebhafterer Beteiligung von Kaufleuten, Bankiers und Industriellen als Redner und Hörer fortgeführt werden wird.

Oder wird schon im nächsten Jahr ein internationaler Wirtschaftskongress größten Formats in den Vereinigten Staaten zusammenkommen? Professor Coar (Kingstown), dessen eindrucksvolle Rede uns gerade deshalb interessant scheint, weil er nicht unter die Fachmänner der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften gezählt werden kann, sondern die Meinung des nordamerikanischen Laien drastisch und schonungslos aussprach, redete einer Zusammenkunft deutscher, französischer, belgischer, englischer und amerikanischer Industriellen das Wort. Er glaubt zuversichtlich, dass die Führer der Wirtschaft, wenn sie einmal erst an einem runden Tisch versammelt sind, das Reparationsproblem auf den Boden der Wirklichkeit zurückbringen werden. Professor Harms (Kiel) erweiterte in einem sehr tapferen Vortrag, der sich unbekümmert über viele Vorurteile der Arbeiterschaft wie des Unternehmertums hin­ wegsetzte, das Programm, zu dem Gedanken eines Gesamtkongresses der führenden Theoretiker und Praktiker der Wirtschaft auf amerikanischem Boden. Es scheint, dass hierfür einige Vorarbeit geleistet ist. Ob der Plan verwirklicht werden kann, wird im Wesentlichen davon abhängen, ob die amerikanischen Nationalökonomen aus ihrer Reserve heraustreten und die Initiative ergreifen werden. Es ist nicht mehr wahrscheinlich, dass das alte Europa in dieser Phase, müde, vergiftet, ohne große Staatsmänner und ohne befeuernden Gedanken, den Weg aus der Sackgasse finden wird, in die es die Blindheit seiner angeblichen Führer und die Taubheit der dumpfen Massen geführt hat. Wenn in zwölfter Stunde nicht durch den Druck des Gläubigerkontinents, dem in der europäischen Politik die Rolle zuzufallen scheint, die in der Krisis Griechenlands dem persischen Großkönig zufiel, ein halbwegs erträglicher Zwischenzustand erzwungen wird, so bleibt nur die gutgegründete Hoffnung auf ein kommendes Geschlecht, das nicht mehr in den heillosen Zirkel des Tuns und Planens der Väter und Großväter eingeschlossen ist.

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